Arbeitswelt: «Ich bin ein ganz anderer Mensch geworden»
Menschen, die wegen psychischer Probleme aus dem Arbeitsmarkt gefallen sind, haben oft Mühe, beruflich wieder Fuss zu fassen. Die Stiftung Arbeitskette will hier helfen – mit Erfolg, wie die Beispiele von Michèle Bucher und Ivo Barbalic zeigen.
Michèle Bucher sitzt auf der Terrasse eines Cafés im Zürcher Kreis fünf und trinkt Tee. Die 26-Jährige wirkt voller Elan – eine junge Frau, die mit beiden Füssen fest auf dem Boden steht.
Das war nicht immer so. «In der Oberstufe», erzählt Bucher, «wurde ich schlimm gemobbt, ich bekam Depressionen und Angstzustände, verlor mein ganzes Selbstbewusstsein, einfach alles.» Danach habe sie dreimal eine Lehre angefangen, musste sie aber jeweils aus gesundheitlichen Gründen abbrechen. Nach einigen Gelegenheitsjobs, die nie lange andauerten, da immer wieder Zweifel an ihr nagten, brach Michèle Bucher im Alter von 21 Jahren zusammen. Es folgte der Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik, später der Wechsel in eine Tagesklinik. Die strukturierten Tage in diesem Rahmen taten ihr gut – sie bewahrten sie vor einer erneuten Abwärtsspirale, die das neu gewonnene Selbstvertrauen erneut hätte zerstören können.
Nach dem Klinikaufenthalt war Michèle Bucher so weit gefestigt, dass sie wieder eine Ausbildung in Angriff nehmen konnte – und diesmal wollte sie es auch wirklich packen. Nur die Selbstzweifel, die blieben: Würde sie es diesmal wirklich durchziehen können, nachdem es so oft nicht geklappt hatte? Ihre Therapeutin machte sie auf Ausbildungsmöglichkeiten im geschützten Rahmen aufmerksam. So meldete sich Bucher trotz anfänglicher Hemmungen bei der IV an und ging zur Berufsberatung. Da es aber im medizinischen Bereich, der sie am meisten interessierte, keine geschützten Lehrstellen gab, beschloss sie, ihr Hobby zum Beruf zu machen: Privat eine leidenschaftliche Köchin, schnupperte sie in den Küchen verschiedener Restaurants mit geschützten Arbeitsplätzen.
Am meisten sagte ihr die Arbeit im Restaurant Limmathof in Zürich zu, einem von fünf Gastronomiebetrieben, die von der Zürcher Stiftung Arbeitskette geführt werden (vgl. «Zwanzig Jahre Restaurant Limmathof» im Anschluss an diesen Text). Da erst im Folgejahr eine Lehrstelle frei wurde, machte ihr die Arbeitskette das Angebot, im «Limmathof» ein Vorlehrjahr zu machen und im Anschluss daran die offizielle Berufslehre Koch EFZ zu absovieren. Im Sommer 2011 begann Michèle Bucher die Lehre.
Ja, es ist «rund gelaufen»
«Am Anfang habe ich viel Unterstützung gebraucht, aber es ist mir von Monat zu Monat besser gegangen – durch das Arbeiten und vor allem auch dadurch, dass ich akzeptiert wurde, so wie ich bin.» Bucher startete durch, ihr Selbstvertrauen wuchs, und auch in der öffentlichen Berufsschule lief es trotz gewisser Befürchtungen wegen ihrer früheren Schulerfahrungen sehr gut. Sie lernte, mit Stress umzugehen. Und so kam der Moment, ab dem es ihr sogar richtig gut ging. Zum Beispiel, wenn sie nach einem strengen Abend in der Küche wusste: Ja, es ist «rund gelaufen» – und ihr das von MitarbeiterInnen und Vorgesetzten auch bestätigt wurde.
Auch wenn der Umgangston in der Küche zuweilen rau gewesen sei: Insgesamt sei das Klima gut gewesen. Dazu gehörte auch, dass man mit dem Chef habe reden können, wenn man sich von ihm ungerecht behandelt fühlte. Auch dass sie bei Bedarf ruhigere Arbeiten ausserhalb der Küchenhektik habe ausführen können – das Lager auffüllen oder Gemüse verräumen –, schätzte sie sehr.
Doch gerade weil alles so reibungslos zu verlaufen schien, musste sie zuweilen auch um Aufmerksamkeit kämpfen. Cornelie Lebzelter, die Leiterin des Fachbereichs Integration bei der Stiftung Arbeitskette, kennt diese Problematik: «Da die Mitarbeitenden teilweise starken Stimmungsschwankungen unterliegen, ist es für die Fachleitenden des Restaurants eine alltägliche Herausforderung, einen adäquaten Arbeitsplan zu machen. Mal geht es zwei, drei Tage gut – schon am nächsten Tag aber ist jemand nicht oder nur limitiert einsetzbar.»
Wenn bei Schichtbeginn genügend MitarbeiterInnen anwesend seien, bleibe genügend Zeit für die Betreuung; wenn nicht, müsse die Leitung selber einen Posten übernehmen, damit der Betrieb funktioniere und nicht die Gäste die Leidtragenden der vorübergehenden Unterbelegung seien.
Alles in allem ist Michèle Bucher aber mehr als zufrieden mit ihrem Weg. Und dankbar für die Chance, die sie bekommen und auch gepackt hat. Im direkten Anschluss an die Lehre, die sie als eine der Besten im Kanton Zürich abschloss, macht sie nun seit Ende August in Winterthur eine Zusatzausbildung als Diätköchin im sogenannten ersten, also dem regulären Arbeitsmarkt. Nicht dass sie heute überhaupt keine Probleme mehr habe. Auch heute gebe es Tage, an denen sie «nicht so gut drauf» sei und sie sich im Voraus Sorgen über etwas mache, das sich später als Bagatelle erweist. «Aber im Vergleich zu früher sind es Welten, ich bin ein ganz anderer Mensch geworden.»
Comeback: Der Jurist als Kellner
Die fünf Restaurants, die die Stiftung Arbeitskette insgesamt betreibt, bieten den Lehrlingen die Möglichkeit, ganz unterschiedlich funktionierende Betriebe kennenzulernen: vom À-la-carte-Restaurant wie dem «Limmathof» bis zum Selbstbedienungsrestaurant Mediacampus beim Zürcher Letzipark. Dazu gehört auch das Restaurant Brunegg in Zürich Wollishofen, ein sogenannter Comeback-Betrieb, in dem die MitarbeiterInnen aus Service und Küche kurz davorstehen, den Schritt in den ersten Arbeitsmarkt zu wagen.
Unter ihnen ist auch der heute 52-jährige Ivo Barbalic. Der Jurist war mit 32 Jahren drauf und dran, das Anwaltspatent zu machen, als ihm die Krankheit dazwischenkam. Bewusst geworden sei ihm das aber erst viel später: «Das Trügerische an einer psychischen Erkrankung ist, dass man zwar merkt, dass etwas nicht stimmt, aber nicht genau sagen kann, was es ist. Man fühlt sich ja nicht krank wie bei einer Grippe.» Aus einem Gespür heraus habe er seine Pläne für das Anwaltspatent begraben und eine Arbeit im Büro eines Rechtsdiensts angenommen. «Ich war schon damals psychisch angeschlagen und wurde dann nach rund zwei Jahren wegen ‹mangelnder Arbeitsleistung› entlassen. Danach bin ich ein Jahr lang psychotisch durch die Gegend gelaufen – und kein Mensch hats gemerkt.»
Das war 1999. Auf der kommunikativen Ebene habe er damals noch relativ gut funktioniert, er habe sich nicht gehen lassen, sich weiterhin gut gekleidet und sei gepflegt geblieben. So blieb er mehr oder weniger unauffällig, obwohl er die Aussenwelt kaum mehr wahrnahm. «Dass ich eine Schizophrenie hatte, wusste ich auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Man kreiert sich eine eigene Welt, und in dieser Welt stimmt eigentlich vieles noch.»
Im Januar 2000, mit 38 Jahren, «klappte» Barbalic «zusammen» und wurde in die psychiatrische Universitätsklinik eingeliefert – zuerst in die geschlossene Abteilung; später wurde er dann in die offene verlegt. Nach insgesamt eineinhalb Jahren Klinikaufenthalt wohnte er zunächst in einer betreuten WG und erledigte vier Jahre lang Büroarbeiten im geschützten Rahmen. In dieser Zeit merkte er, dass ihm im Büro nicht wohl ist, eigentlich gar nie wohl war. «Das wurde mir erst durch die Krankheit bewusst. Sie half mir, so gesehen, dabei herauszufinden, was ich bin – und was eben nicht.»
Die Freiheit zurückgewinnen
Ivo Barbalic wechselte vom Büro ins Gastgewerbe. Im «Limmathof» arbeitete er im Service und setzte sich in dieser Zeit das Ziel, seine Krankheit zu überwinden: «Ich wollte nicht in der Krankheit verharren, weil ich so mein Potenzial nicht ausleben konnte und meine Freiheit zurückgewinnen wollte.» Wohl habe ihm dabei geholfen, dass er bis 37 quasi ein «normales» Leben geführt habe, mit Freundeskreis, Ausbildungen, Arbeit und Beziehungen. Barbalic begann, sein Verhalten im täglichen Umgang mit Menschen zu analysieren: Wo war eine Reaktion psychotisch, wo ganz normal? Und er versuchte sich zu erinnern, wie es im früheren Leben gewesen war. Dieser Weg, der ihn nun seit langem symptomfrei gemacht habe, sei für ihn der richtige gewesen, doch sicher nicht allgemeingültig – jeder Mensch habe seine eigene Geschichte und müsse einen persönlichen Umgang mit der Krankheit finden.
Nach vier Jahren im «Limmathof» wechselte Barbalic ins Restaurant Brunegg in Wollishofen, um einen Schritt weiterzugehen auf seinem Weg in ein Arbeitsleben ausserhalb des geschützten Rahmens. Die vielseitige Servicearbeit gefällt dem Berufsumsteiger, genauso der Kontakt mit den Gästen. Auch wenn es mitunter solche gebe, die arrogant aufträten – inzwischen habe er gelernt, ein solches Verhalten nicht persönlich zu nehmen. In den nächsten Monaten will Ivo Barbalic damit beginnen, sich als Kellner zu bewerben: «Ein volles Pensum werde ich aber noch nicht übernehmen – ich muss schauen, dass ich das Gleichgewicht zwischen aussen und innen behalten kann.»
Was die Zukunft bringen wird, weiss Barbalic noch nicht. «Ich bin aber zuversichtlich, einen Schritt weitergehen zu können, ohne dabei Schiffbruch zu erleiden und wieder in einen geschützten Rahmen zurückkehren zu müssen. Trotzdem ist klar, dass ich andere Grenzen habe als jemand, der keinen solchen Hintergrund hat wie ich.»
Stiftung Arbeitskette : Zwanzig Jahre Restaurant Limmathof
1977 wurde die Stiftung Arbeitskette gegründet mit dem Ziel der beruflichen Integration für psychisch und/oder körperlich beeinträchtigte Jugendliche und Erwachsene – ein für damalige Verhältnisse neuartiger Ansatz: Damals befanden sich geschützte Arbeitsplätze vorwiegend in Werkstätten, in denen fast nur einfachste handwerkliche Tätigkeiten ausgeübt wurden.
Das Gründungsprojekt der Arbeitskette war ein Projekt für Drogenabhängige: das «Drop-in Garten». 1994 eröffnete die Arbeitskette nach dem Vorbild eines Berliner Restaurants in Zürich das Restaurant Limmathof, das letzte Woche sein zwanzigjähriges Jubiläum feierte. Der «Limmathof» war landesweit das erste Projekt dieser Art. Die TrägerInnenschaft musste zunächst von der Stiftung selber übernommen werden, weil extern niemand für ein solches Pilotprojekt gewonnen werden konnte. Es folgten weitere Restaurants an verschiedenen Orten der Stadt; heute sind es insgesamt fünf, unter anderem auch ein grosser Cateringservice. Nachdem die ersten Betriebe lange Zeit noch ehrenamtlich vom Vorstand geführt wurden, haben sich die Betriebsleitungen schrittweise professionalisiert.
Mittlerweile sind alle Betriebe selbsttragend; für die mit dem Sozialauftrag verbundenen Zusatzkosten kommen der Bund und der Kanton Zürich auf. Rund zwei Drittel der MitarbeiterInnen arbeiten an sogenannten Integrationsarbeitsplätzen; diese haben nicht primär den (Wieder-)Einstieg in den regulären Arbeitsmarkt zum Ziel, sondern sollen Menschen mit Beeinträchtigungen verschiedenster Art einen adäquaten Arbeitsplatz bieten, der sie auch herausfordert. Beim restlichen Drittel der Arbeitsplätze handelt es sich um sogenannte berufliche Massnahmen: erstens dreimonatige Eignungsabklärungen, zweitens Trainings von sechs Monaten und drittens, als grösste Gruppe, die Lehrstellen. Derzeit arbeiten vierzig Lehrlinge in den fünf Betrieben. Die BetriebsleiterInnen müssen nicht zwingend eine erzieherische Fachausbildung haben; wichtiger ist der Praxisbezug.