Brexit: Eine Regierung pickt Rosinen und zieht rosa Linien

Nr. 10 –

Die britische Premierministerin Theresa May hat vor wenigen Tagen eine Grundsatzrede zum Brexit gehalten. Wo steckt der Prozess? Vier Antworten auf die vier wichtigsten Fragen.

Im Juni 2016 stimmten 52 Prozent der BritInnen für den Austritt aus der Europäischen Union, gut zwei Wochen später übernahm Theresa May das Amt der Premierministerin. Kurz nach Amtsantritt verkündete sie, eine «neue, kühne, positive Rolle» für Britannien in der Welt finden zu wollen. Zudem werde sie die «brennenden Ungerechtigkeiten» in der Gesellschaft bekämpfen. Grosse Worte. Was ist eineinhalb Jahre später aus ihnen geworden?

1. Wie weit ist das Land im Ablösungsprozess?
Nicht viel weiter als vor eineinhalb Jahren. Die Austrittsgespräche werden durch ein grundlegendes Problem erschwert: Die Positionen Britanniens und der EU sind kaum vereinbar. Die Regierung von Theresa May hofft, die EU-Mitgliedschaft durch eine Reihe von Abkommen ersetzen zu können, die verschiedene Wirtschaftssektoren unterschiedlich eng an die EU binden. Die britische Autoindustrie etwa soll die Regeln der EU ganz übernehmen, während die Bestimmungen in der Landwirtschaft stark abweichen würden. Die EU hingegen vertritt den Standpunkt: Entweder ist man drinnen – oder draussen. Alles andere wäre Rosinenpickerei.

Brüssel ist in den Verhandlungen in der stärkeren Position, denn der Brexit erfolgt am 31. März 2019, egal was kommt. Falls Britannien dann ohne Abkommen aus der EU kracht, wird der Schaden für die EU gross sein, für die BritInnen jedoch geradezu katastrophal: Die britische Wirtschaft droht im ersten Jahr um 125 Milliarden Pfund zu schrumpfen, schätzt das Forschungsinstitut Oxford Economics.

Die britische Regierung weiss das. Entsprechend haben sich die roten Linien, die sie nach dem Brexit selbstbewusst deklariert hatte, im letzten Jahr allmählich rosarot verfärbt: Die Forderung der EU nach einer milliardenschweren «Scheidungszahlung» und die weitere juristische Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in gewissen Politikbereichen galten einst als absolute Tabus. Inzwischen hat London beidem zugestimmt.

Je länger die Verhandlungen dauern, desto klarer wird, dass der Brexit-Kurs der Regierung ins Abseits führt. Theresa May ist sich dessen bewusst, doch sie wird vom rechten Rand ihrer Partei unter Druck gesetzt, dem das Brexit-Referendum zu verdanken ist. Die entsprechenden Abgeordneten wollen einen klaren Bruch mit der EU – ungeachtet der Folgen. Diese TräumerInnen haben entgegen allen ökonomischen Realitäten das Gefühl, dass Handelsverträge mit Ländern ausserhalb Europas der Weg zur Prosperität seien.

Bislang ist Mays Strategie ausschliesslich parteipolitisch motiviert: Anstatt praktikable Vorschläge für die künftige Beziehung zur EU zu unterbreiten, versucht sie, die verschiedenen Flügel ihrer Partei zusammenzuhalten.

2. Warum hat die Nordirland-Frage in den Verhandlungen so viel Gewicht?
Wenn Britannien aus der Zollunion ausscheidet, wird die sogenannt grüne Grenze zwischen der Republik Irland und der britischen Region Nordirland automatisch zur EU-Aussengrenze. Der Abbau der Schlagbäume und Kontrollposten war ein wichtiger Bestandteil des Karfreitagabkommens von 1998, mit dem der Nordirlandkonflikt offiziell beendet wurde. Die Notwendigkeit, den Waren- und Personenverkehr zwischen den zwei Inselteilen aufrechtzuerhalten, wird von allen Seiten anerkannt. Bei der Lösung des Problems hapert es hingegen.

Eine Möglichkeit wäre, die Grenze in die Irische See zu verlegen: Die Regulierungen auf der gesamten irischen Insel würden einander angeglichen, Handelsgüter und Reisende würden erst beim Übertritt von Nordirland aufs britische Festland kontrolliert. Doch diese Lösung wird von Mays Regierungspartnerin, der Democratic Unionist Party (DUP), verhindert. Den erzkonservativen UnionistInnen und Brexit-AnhängerInnen ist nichts wichtiger als der Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs. Eine Grenze in der Irischen See oder eine Annäherung zwischen Irland und Nordirland wird damit verunmöglicht. Die DUP will raus aus der EU und der Zollunion. Die Probleme, die sich daraus für die Beziehung zu Irland ergeben, interessieren sie nicht.

3. Haben die BritInnen angesichts der riesigen Probleme, vor die der Brexit das Land stellt, ihre Meinung geändert?
In geringem Mass. Die Bevölkerung äussert in jüngsten Umfragen eine knappe Präferenz für den Verbleib in der EU. Doch es ist überraschend, wie wenig Brexit-AnhängerInnen ihre Meinung geändert haben. Das ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die drohenden Auswirkungen des Brexits den Leuten als eher abstrakt erscheinen. Zudem verfolgen die meisten Leute die Verhandlungen nicht besonders interessiert – den meisten sind alltägliche Dinge wie der Gesundheitsdienst oder ihre eigene Wohnungssituation wichtiger.

Die neue Anti-Brexit-Partei namens Renew, die in der Presse für Aufregung sorgt, dürfte ein Rohrkrepierer sein: Den Brexit ganz abzublasen, dafür gibt es keine Mehrheit im Land.

4. Warum will Labour eine Zollunion?
Die Labour-Partei unter Jeremy Corbyn hat sich im letzten Jahr in ihrer Positionierung schrittweise in Richtung eines sogenannt weichen Brexits bewegt – sie fordert eine enge Beziehung zur EU. Die kürzliche Ankündigung Corbyns, eine Zollunion mit der EU anzustreben, ist der bislang letzte Schritt auf diesem Weg. Wenige zweifeln daran, dass ein gemeinsames Grenzregime mit den EU-Ländern wirtschaftlich Sinn ergibt: Die grenzüberschreitenden Lieferketten etwa in der Autoindustrie würden infolge der Einführung von Zöllen oder anderen Handelshemmnissen zusammenbrechen. Zudem würde die Zollunion das Nordirlandproblem lösen.

Aber Corbyns Entscheidung ist auch aus strategischer Sicht nicht verkehrt. Sein Problem ist, dass viele WählerInnen in traditionellen Labour-Hochburgen für den Brexit gestimmt haben. Wenn die Partei zu viele Konzessionen an die Brexit-GegnerInnen macht, könnte sich bei diesen WählerInnen das Gefühl einstellen, dass ihr demokratisches Votum ignoriert wird. Doch Corbyn argumentiert geschickt: Er verkauft die Beibehaltung des zollfreien Raums zu Recht als Mittel zur Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen Wohlstands. In diesem Sinn ist sie Teil der Antwort auf die Fragen: Was für eine Gesellschaft wollen wir, und wie erreichen wir sie?

Diese Fragen müssen die Grundlage jeder Brexit-Strategie sein. Denn das Votum vom Juni 2016 war vieles, vor allem aber ein Ruf nach Veränderung. Deshalb reicht es nicht, gegen den EU-Austritt zu sein: Wer die Probleme des Landes anpacken will, die zum Brexit geführt haben, muss eine umfassende Erneuerung in Angriff nehmen. Ungleichheit, schlechte Löhne, prekäre Arbeitsverhältnisse, ein übermächtiger Finanzsektor, ein regionales Wohlstandsgefälle, ein ausgehungerter Gesundheitsdienst – die Liste der Missstände in Britannien ist lang.

Das Brexit-Problem sollte also so angegangen werden wie alle politischen Fragen: Man legt fest, welche Veränderungen man anstrebt, und baut das politische Programm dementsprechend von unten auf. Wenn Labour einen solchen Kurs fährt, könnte es der Partei gelingen, sowohl die Brexit-WählerInnen in den verarmten Kommunen als auch die kosmopolitischen Brexit-GegnerInnen auf ihre Seite zu ziehen.