Prozess gegen «Die acht aus Tarnac»: Der Aufstand, der nicht kam
Ein aufsehenerregendes Buch, ein britischer Polizeispitzel und eine sabotierte TGV-Zuglinie: In Paris haben die Verhandlungen zum verwirrenden Tarnac-Fall begonnen. Ein Gerichtsreport.
«Die Kommunen sind durch Überwachung und polizeiliche Ermittlungen, durch Kriminalpolizei und Spitzeldienst verwundbar.»
«Der kommende Aufstand» (2007)
Zweiter Prozesstag im Fall der «acht aus Tarnac»: Die Richterin im Pariser Gerichtssaal lässt ein Foto auf drei Bildschirme übertragen. Darauf zu sehen: der Hof Le Goutailloux bei Tarnac im französischen Zentralmassiv. Hier lebt eine Wohngemeinschaft, die einen gewaltsamen Aufstand geplant haben soll. Der Hof ist auf dem Foto nur vage zu erkennen – von weit weg zwischen Bäumen hindurch fotografiert. Einer der acht Angeklagten meldet sich zu Wort: Die Polizei habe das Haus aus der Distanz fotografiert, obwohl direkt am Hof eine Strasse vorbeiführe. Das einzige Ziel des Fotos sei, den Hof mysteriös und versteckt wirken zu lassen. «Das ist eine Inszenierung!»
Vor dem Gericht stehen drei Frauen und fünf Männer, 30 bis 45 Jahre alt. Sie sind gut gekleidet, wortgewandt. Zwei tragen eine Brille, eine roten Lippenstift, da und dort sind erste Anzeichen von grau meliertem Haar zu erkennen. Die angebliche Tat, die ihnen vorgeworfen wird, liegt rund zehn Jahre zurück. Bis vor zwei Jahren waren die acht Personen als «terroristische Vereinigung» angeklagt. Daraufhin hat das Oberste Gericht die Anklage gekippt. In den Medien gilt das Verfahren längst als «affaire d’État», als Staatsaffäre.
Zurück bei der ersten Instanz, hat die Anklage nun aus dem Scherbenhaufen des Terrorprozesses eine normale Anklage zusammengeschustert. Der Vorwurf der «terroristischen Vereinigung» wurde in «Bildung einer kriminellen Vereinigung» umgewandelt, der nur noch gegen vier der Angeklagten erhoben wird. Darunter sind die beiden Hauptangeklagten, denen zudem «Beschädigung von öffentlichem Eigentum» vorgeworfen wird – die anderen beiden sollen Landfriedensbruch begangen haben. Zwei Angeklagte müssen sich lediglich wegen versuchter Fälschung von Papieren verantworten, die letzten beiden, weil sie sich geweigert haben, eine DNA-Probe abzugeben.
«Ich werde mich nicht wegen einer Geschichte verteidigen, die mir von Anfang bis Ende verrückt vorkommt», sagt einer der beiden Hauptangeklagten. «Es gibt Leute, die gemeinsame Träume haben, die beschliessen, zusammen eine Farm aufzubauen. Das ist weder verrückt noch verdächtig.»
Die Innenministerin klagt an
2004 hatten junge Leute aus Paris den Hof in der Nähe des 300-Seelen-Dorfs Tarnac gekauft. Sie halten Schafe und Hühner, legen einen Gemüsegarten an. Der damalige Bürgermeister bezeichnet sie als «einen Segen für die ganze Gemeinde», aus der die Jungen abwanderten. Tarnac ist von einer kommunistischen Geschichte geprägt – während des Zweiten Weltkriegs kämpfte die Résistance in den umliegenden Wäldern gegen die Nazis. 2007 übernehmen die jungen Leute den Treffpunkt der Gemeinde: einen Lebensmittelladen mit Bar und Tankstelle.
Ein Jahr später, am 11. November 2008, wird das kleine Tarnac auf einen Schlag über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Morgens um sechs stürmen 150 PolizistInnen inklusive vermummter Antiterroreinheiten die Gemeinde Tarnac (siehe WOZ Nr. 8/2009 ). Sechs EinwohnerInnen werden verhaftet. Zeitgleich werden weitere junge Leute an anderen Orten in Frankreich festgenommen – insgesamt zwanzig Personen. Einige landen für Monate in Untersuchungshaft. Der Vorwurf: «kriminelle Vereinigung mit terroristischem Charakter».
Noch während der Polizeioperation verkündet die damalige französische Innenministerin Michèle Alliot-Marie, die Polizei habe «ultralinke» Mitglieder einer «anarcho-autonomen Bewegung» festgenommen. Sie seien verantwortlich für eine Sabotage an den Leitungen des Hochgeschwindigkeitszugs TGV drei Tage zuvor. Die Ministerin beschwört das «Risiko eines gewaltsamen Wiederauflebens des Linksextremismus». Es ist die Ära von Präsident Nicolas Sarkozy. Dieser hatte bereits als Innenminister 2005 die Möglichkeit von Überwachungsmassnahmen drastisch ausgeweitet und die Antiterrorgesetze verschärft. Nach den Verhaftungen lobt er die «Effektivität des Geheimdiensts und der Antiterroreinheiten unter der Leitung von Michèle Alliot-Marie».
«In Erinnerung an Sébastien»
Anwalt Jérémie Assous, der sieben der acht Angeklagten vertritt, steht vor den Richterinnen und sagt: «Dieser Fall ist eine politische, polizeiliche, rechtliche und mediale Fiktion.» Die französische Tageszeitung «Le Monde» beschreibt Assous als «grossspurig, brillant und unerträglich». Der Anwalt gestikuliert so elegant wie energisch. Mit der schwarzen Robe, die er trägt, wirkt das alles etwas theatralisch. Für Staatsanwalt Olivier Christen sind Assous’ Argumente Nebelpetarden, dessen Redeschwall «verbaler Durchfall». Der Staatsanwalt ist sichtlich gereizt: «Ich möchte, dass nicht immer gekichert wird, wenn ich spreche.»
Der Prozess, der am 13. März begonnen hat, soll drei Wochen dauern. Er ist ein Spektakel: Zum Auftakt sind über vierzig Medienleute vor Ort. Als die ersten Angeklagten im Palais de Justice eintreffen, werden sie von den FotografInnen mit einem Blitzlichtgewitter empfangen. Über hundert Eltern, Geschwister, Freunde und Einwohnerinnen aus Tarnac sind angereist, um dem Prozess beizuwohnen. Sie warten dicht gedrängt vor der polizeilich bewachten Absperrung. Der Verhandlungssaal ist viel zu klein. «Lasst uns rein!», rufen jene, die draussen bleiben. Ihre Rufe hallen im Justizpalast nach.
Vorne im Gerichtssaal thronen die leitende Richterin, drei Beirichterinnen und die beiden Staatsanwälte in schwarzen Roben über einem schwerfälligen hölzernen Richterpult. Goldene Stuckaturen schmücken die Decke. Auf dem Richterpult liegt ein Haken – ein U-förmiges Armierungseisen, zwei Kilo schwer und wie alle Beweismittel mit einem roten Siegel versehen. Wegen dieses und drei weiterer Haken verspäteten sich am 8. November 2008 in Frankreich 150 Züge. Die an den Oberleitungen angebrachten Hakenkrallen führten dazu, dass die ersten Züge am Morgen die Leitungen herunterrissen. Für Passagiere bestand keine Gefahr, doch auf vier Zuglinien stand stundenlang alles still.
Nach der Sabotage der TGV-Linie erhielten zwei Tageszeitungen in Berlin ein Schreiben, in dem sich deutsche AKW-GegnerInnen anonym zur Tat bekannten. «In Erinnerung an Sébastien», stand im Brief. Exakt vier Jahre zuvor war der Aktivist Sébastien Briat bei Protesten gegen den Castor-Transport, der jeweils radioaktive Fracht von Deutschland nach Frankreich und zurück transportiert, von einem Zug überfahren worden und vor Ort verstorben. Auch am Tag vor der Sabotage der TGV-Linie war ein Castor-Transport losgefahren – allerdings wurde dieser durch die Aktion nicht gestoppt.
Zahlreiche Ungereimtheiten
Die französischen ErmittlerInnen haben das Original des Bekennerschreibens nie angefordert. Beweise, dass die acht Angeklagten an der Sabotage beteiligt waren, liegen keine vor. Nur bei den zwei Hauptangeklagten gibt es ein mögliches Indiz: Die beiden, die zu dieser Zeit ein Paar waren, sollen in besagter Nacht mit dem Auto bei einem der vier Tatorte herumgefahren sein.
Allerdings sind die Ermittlungen mit Ungereimtheiten gespickt. Das Paar soll während seiner Fahrt von etwa siebzehn PolizistInnen überwacht worden sein, die aber keine Sabotage beobachten konnten. Zudem widersprechen sich die Aussagen der ErmittlerInnen: Zeitangaben stimmen nicht überein; wie viele von ihnen vor Ort waren, ist unklar. Ein Beamter will zwei Rapporte zeitgleich an zwei verschiedenen Orten unterschrieben haben. Ortsinformationen sind ebenfalls falsch: Dort, wo das Auto eine Brücke überqueren sollte, ist im Rapport von einem Tunnel zu lesen – und umgekehrt.
«Wenn wir aufseiten der Ermittler eine solche Menge an Fehlern feststellen», sagt Anwalt Assous vor dem Gericht, «dann sind sie entweder inkompetent, oder sie versuchen, etwas zu verbergen.» Vieles deute darauf hin, dass die Beschuldigten in der Tatnacht nicht etwa von PolizistInnen observiert worden seien, sondern von einem GPS-Tracker. Sollte sich das bewahrheiten, würde die Anklage wegen polizeilicher Falschaussagen in sich zusammenfallen, zumal das Paar schon zuvor während sechs Monaten ohne konkreten Tatverdacht und ohne jegliche richterliche Grundlage überwacht worden war.
Den Anstoss zu dieser Überwachung hatte der britische Polizeispitzel Mark Kennedy geliefert, der Anfang 2008 das FBI sowie den französischen Geheimdienst vor dem Paar aus Tarnac warnte. Kennedy spionierte sieben Jahre lang als Undercoveragent linke AktivistInnen in 22 Ländern aus. 2010 flog er auf. Daraufhin zeigte sich, dass Kennedy nicht nur Tatsachen verdreht hatte, um seinen Einsatz als relevanter darzustellen, sondern auch als Agent Provocateur agiert hatte. Die britische Justiz stoppte daraufhin laufende Strafverfahren, an denen der Spitzel wesentlich mitgewirkt hatte. Frankreich tat nichts.
Um die Lücken in ihrer Beweisführung zu füllen, hatten die Behörden im ursprünglichen Terrorprozess ein poetisch-subversives Buch hinzugezogen: das 2007 anonym veröffentlichte «L’Insurrection qui vient» (Der kommende Aufstand), das für den Aufbau revolutionärer Kommunen plädiert. Die Ermittlungsbehörden zitieren immer wieder dieselbe Stelle: «Die technische Infrastruktur der Metropole ist verletzlich. Wie ist eine TGV-Linie, wie ist das Elektrizitätsnetz sabotierbar?»
Die Staatsanwaltschaft bezeichnete den Hof Le Goutailloux damals als «Ort der Indoktrination, die Basis für gewalttätige Aktionen». Sie vermutete auch die Existenz einer «unsichtbaren Zelle», bereit für den bewaffneten Kampf. Einer der beiden Hauptangeklagten, der auf Le Goutailloux wohnt, soll nicht nur die TGV-Linie sabotiert haben und der Drahtzieher der geheimen Tarnac-Gruppe sein, sondern auch der Mitautor des Buches. Ob das stimmt, ist unklar.
Fest steht: Im Antiterroreinsatz gegen die «unsichtbare Zelle» sind viele, die mit dem Hof in Kontakt stehen, in die Fänge des Geheimdiensts geraten: FreundInnen des Kommunenkollektivs; AktivistInnen, die gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 oder den EU-Integrationsgipfel in Vichy 2008 demonstrierten. Die beiden, die heute wegen Landfriedensbruch vor Gericht stehen, sollen lediglich versucht haben, bei einer bewilligten Demonstration in Vichy vor zehn Jahren Polizeiabsperrungen zu durchbrechen.
Einem Spinnennetz entkommen
Einer der Nebenangeklagten ist Damien Moreau (Name geändert) – inzwischen ist er um die vierzig, hat zwei Kinder. «Eine geheime Tarnac-Gruppe hat es nie gegeben», sagt er. «Die Diskrepanz zwischen dem, was wir waren, und dem, was über uns gesagt wurde, ist riesig. Die Bullen sprachen von bewaffnetem Kampf, fanden aber nirgends Waffen.» Natürlich seien sie politisierte Leute. Doch erst die Behörden hätten sie zu einer politischen Gruppe gemacht. «Es ist, wie wenn man ein Bild von dir macht und es anschliessend so stark mit Photoshop bearbeitet, bis du dich nicht wiedererkennst.»
In den letzten zehn Jahren ist die Stimmung in Frankreich nach und nach zugunsten der Angeklagten gekippt: Die «Tarnac-Affäre» ist inzwischen hoch umstritten. Der Tenor lautet heute: Was auch immer die Leute von Tarnac getan haben, Terrorismus ist das nicht. «Wir kommen aus der weissen, gebildeten Mittelklasse – das hat uns sicherlich in die Hände gespielt», sagt Moreau. Inzwischen sei viel Zeit verstrichen. «Freundschaften sind auseinandergegangen, viele sind umgezogen, haben eine neue Arbeit gefunden, eine Ausbildung angefangen und Kinder bekommen. Aber sie halten uns noch immer dasselbe Bild vor.» Es fühle sich an, als würde er seit zehn Jahren versuchen, sich aus einem Spinnennetz zu befreien.
Bereits am ersten Prozesstag, der sich wie die darauffolgenden bis spät in den Abend hinzieht, beantragt Anwalt Assous, dass Exinnenministerin Alliot-Marie und die PolizistInnen, die sich widersprechen, im Gerichtssaal befragt werden sollen. Nachdem sich die Richterinnen zurückgezogen haben, um zu beraten, lehnen sie beide Anträge ab. Alliot-Marie habe ausrichten lassen, dass ihr Terminkalender zu voll sei. Zudem sei sie mit dem Fall nicht vertraut.
Nachtrag vom 19. April 2018 : Freisprüche für die «Tarnac-Gruppe»
Fast zehn Jahre hatte das Verfahren rund um die «acht aus Tarnac» gedauert – nun wurden am vergangenen Donnerstag sieben der acht französischen AktivistInnen vollumfänglich freigesprochen. Weder hätten die beiden Hauptangeklagten eine «kriminelle Gruppe» angeführt, noch lägen genügend Beweise vor, dass sie 2008 eine TGV-Zugstrecke sabotiert hätten, so das Pariser Gericht. Lediglich einer der Beschuldigten – angeklagt wegen «versuchter Fälschung von Papieren» – wurde wegen «Hehlerei» zu vier Monaten auf Bewährung verurteilt.
Die BewohnerInnen der Landkommune im französischen Dorf Tarnac und deren FreundInnen gerieten 2008 in die Fänge der Antiterrorpolizei und des Geheimdienstes. Wegen Aussagen des britischen Polizeispitzels Mark Kennedy, wegen des repressiven Klimas unter dem damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy, wegen der politischen Flugschrift «Der kommende Aufstand», die einem Berater des Innenministeriums in die Hände gefallen war.
Nachdem 2008 in Zusammenhang mit Protesten gegen den Atommülltransport Castor vier TGV-Zugleitungen sabotiert worden waren, stürmten 150 BeamtInnen das kleine Tarnac und verhafteten die Leute rund um die Landkommune. Die Behörden erklärten sie zur «unsichtbaren Zelle», zur «terroristischen Vereinigung». Obwohl das höchste französische Gericht die Anklage kippte, kratzte die Staatsanwaltschaft zusammen, was es noch zusammenzukratzen gab, und erhob erneut Anklage gegen die «acht aus Tarnac»: Den beiden Hauptangeklagten wurden nach wie vor die TGV-Sabotage vorgeworfen sowie die «Bildung einer kriminellen Vereinigung», den anderen sechs Angeklagten diverse kleinere Delikte. Doch das Verfahren war durchzogen von Ungereimtheiten seitens der Polizei.
In dieser Affäre sei «die Ehre der Polizei beschädigt worden», sagte einer der Anwälte im Schlussplädoyer. Nun liege es an den Richterinnen, «wenigstens die Ehre der Justiz zu retten». Zum Schluss räumte selbst der Staatsanwalt ein: «Eine ‹Gruppe Tarnac› gibt es nicht. Es handelte sich um eine Konstruktion der Polizei, und die Gesellschaft hat keinerlei Interesse, die Beschuldigten erneut einzusperren.» Das Finale fiel damit so skurril aus wie der Fall an sich.
Merièm Strupler