Theater um P-26: «Als wärs ein netter Schulausflug gewesen»
In seinem Stück «Lugano Paradiso» beschäftigt sich Andreas Sauter mit der Geschichte des Kalten Kriegs und seiner Fortwirkung. Ein Gespräch vor der Uraufführung am Theater St. Gallen, über die Geheimarmee, den Fichenskandal und Atomrampen im Eis.
WOZ: Andreas Sauter, in Ihrem Stück zeigt sich ein ehemaliger Linksaktivist erstaunt darüber, dass die Schweiz einen Antikommunismus etabliert hat wie kein anderes Land Westeuropas. Sie haben für Ihr Stück Akten gewälzt, Bücher gelesen, Gespräche geführt. Hat Sie dieser Antikommunismus selbst überrascht?
Andreas Sauter: In seiner rabiaten Ausprägung, ja. Ich habe als Jugendlicher erlebt, wie 1989 der Fichenskandal an die Öffentlichkeit kam. Dass über 800 000 Menschen und Organisationen vom eigenen Staat überwacht wurden, ist einer der grössten Skandale der Schweiz der jüngeren Geschichte. Was mich während der Recherchen auch überrascht hat, ist, wie früh dieser Antikommunismus losging.
Wann nahm der Antikommunismus seinen Anfang?
Bereits mit der Geistigen Landesverteidigung Ende der dreissiger Jahre. Als Gegenentwurf zum totalitären NS-Regime hat Bundesrat Philipp Etter eine kulturelle Grundsatzerklärung formuliert. Interessanterweise taucht der Kommunismus bereits da als «gefährlichster Feind menschlicher Freiheit» auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte man mehr oder weniger nahtlos daran anknüpfen. Sicher bestand im Kalten Krieg eine reale Gefahr, die in zwei Lager geteilte Welt und das atomare Wettrüsten haben die gesamte Menschheit bedroht. Aber die Vehemenz des Antikommunismus in der Schweiz ist schon erstaunlich.
Weshalb war er hier so stark?
Die Schweiz befand sich nach dem Krieg in einer Identitätskrise. Sie wurde von den USA und Britannien für ihre wirtschaftliche Kollaboration mit Nazideutschland kritisiert. Als die Nato gegründet wurde, um unter anderem den Kommunismus einzudämmen, hat sich ihr die Schweiz ideologisch angeschlossen, um ihr Image aufzubessern. Nach dem Krieg waren mit der Réduitgeneration ausserdem dieselben Eliten an der Macht wie zuvor. Sie setzten das Eingraben, die Verbunkerung, die Notfallpläne einfach fort – nun als Schutzmassnahmen im Kalten Krieg.
Wie die Überwachung zeigt, diente der Antikommunismus vor allem der Disziplinierung im Innern. Peter Müller, wie der Linksaktivist in Ihrem Stück schön brav heisst, verliert beispielsweise seine Stelle als Bibliothekar.
Genauer verliert er seinen Aushilfsjob in einer Bibliothek, wo er arbeitet, weil er über Jahre keine Stelle findet. Das hat damals viele betroffen. Vor allem bei Lehrerberufen waren die Sanktionen sehr stark: Wer mit Kommunisten zu tun hatte oder den Militärdienst verweigerte oder sonst nicht dem bürgerlichen Mainstream entsprach, hat sich verdächtig gemacht. Es gab Berufsverbote, man hatte Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche und so weiter. Die Überwachung folgte dem Schneeballprinzip. War jemand verdächtig, wurde das ganze Umfeld überwacht.
Eine weitere Ausprägung des Antikommunismus in der Schweiz war die Geheimarmee P-26. Wie erklären Sie es sich, dass in der Schweiz, die sich gerne ihrer Demokratie und Rechtsstaatlichkeit rühmt, ausserhalb der Verfassung eine solche Organisation entstehen konnte?
Das ist tatsächlich schwierig. Die P-26 zeugt davon, dass die Angst sehr gross war, dass sie teilweise vielleicht auch sehr gross gemacht wurde. Dass eine solche Organisation ausserhalb des Rechtsstaats besteht, geht in einer Demokratie gar nicht. Die P-26 ist ein Beispiel dafür, wie viel mit der Argumentation, eine Gesellschaft schützen zu wollen, möglich wird. Viel mehr als wir jemals wissen. Wer weiss, ob es nicht längst eine P-30 oder P-31 gibt …
Das historische Bild der P-26 schwankt heute zwischen einer Geheimarmee und einer Operettentruppe. Was ist Ihre Einschätzung?
Ich denke, irgendwo dazwischen. Mit 400 Mitgliedern war rund die Hälfte des geplanten Bestandes «rekrutiert» – interessanterweise ein Ausdruck aus der Armee. Sie waren im Zellenprinzip organisiert, hätten sich also bei einem Einmarsch der Russen nicht einmal gekannt, was eher an eine Operettentruppe erinnert. Ich würde von einer Geheimorganisation sprechen.
Im Stück tritt auch ein ehemaliges P-26-Mitglied auf: Ilka Baer alias Susi wirkt folgsam und entschlossen zugleich. Basiert die Figur auf einer realen Person?
Ich habe bei meinen Recherchen auch mit einem ehemaligen Mitglied der P-26 gesprochen. Mich hat interessiert, aus welchen Gründen sich diese Person entschlossen hat mitzumachen und wie sie heute ihren Einsatz beurteilt: Gibt es da einen Riss in der Betrachtung, Fragen, auch was die Rechtsstaatlichkeit betrifft? Ich war dann schon ein wenig überrascht: Die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit wird natürlich kritisiert, aber man hat davon nichts gewusst, es erst im Nachhinein erfahren. Und doch klingt es immer wieder so, als wäre die Ausbildung im Bunker ein netter Schulausflug gewesen. Man wollte halt etwas Gutes für den Staat tun. Doch würde man sich nicht besser an der demokratischen Debatte beteiligen, statt im Geheimen zu agieren, wenn man etwas Gutes für den Staat tun möchte?
Geheim ist die P-26 bis heute geblieben, weil ihre Akten gesperrt sind.
Die Mitglieder sind seit 2009 von der Schweigepflicht entbunden, doch wenige sprechen darüber. Die Schweigepflicht schützte jedoch nicht nur die Mitglieder, sondern auch das Projekt. Dass die Akten weiterhin gesperrt sind, verunmöglicht eine historische Aufarbeitung. Dass jüngst einzelne Bestände des sogenannten Cornu-Untersuchungsberichts verschwunden sind, nährt natürlich die Spekulationen. Erst recht, weil es darin auch um die Beziehungen zu europäischen Geheimdiensten geht.
Neben dem Fichenskandal und der P-26 erzählen Sie im Theater auch eine umgekehrte Geschichte: Die Schweizer Politik hatte zwar eine Riesenangst vor dem Kommunismus, gleichzeitig diente das Land als Drehscheibe für Embargogüter für die DDR.
Als neutrales Land hat sich die Schweiz nicht am Embargo der Nato-Staaten gegen den Ostblock beteiligt. So kam es, dass Mikroelektronik, Maschinenteile oder auch Waffen zum Beispiel aus den USA in die Schweiz importiert, in Zollfreilagern zwischengelagert und von da an die DDR weiterverkauft wurden: ein undurchschaubares Netz von Tarn- und Briefkastenfirmen, von Geschäftsleuten, Anwälten, Bankern und Politikern. Es war ein lohnendes Geschäft, mit Gewinnmargen von bis zu vierzig Prozent.
Sie leben schon lange in Berlin, haben sich nun aus der Distanz intensiv mit der Schweiz beschäftigt. Ist sie Ihnen bei Ihrer Recherche näher gerückt oder fremder geworden?
Zum einen ist sie mir näher gekommen, weil ich gewisse Vorgänge in der Politik und meine Prägung durch dieses Land besser verstehe. Zum anderen ist sie mir fremd geblieben in ihrer Doppelmoral, die sich wie ein roter Faden durch die Schweizer Geschichte zieht.
Ihr Stück ist eine Collage aus Zitaten und Erinnerungen. Reicht es zum Verständnis der Zeit, Dokumente aus dem Kalten Krieg einfach miteinander zu kombinieren?
Die Form entwickelt sich beim Schreiben aus dem Inhalt. Bei dieser Arbeit dachte ich zuerst, ich blicke auf eine abgeschlossene Ära zurück. Aber mit jeder Geschichte, mit jeder Linie, der ich während der Recherche gefolgt bin, habe ich die Aktualität der Themen gespürt. Durch das Nebeneinanderstellen fangen die Dinge an, miteinander zu sprechen. Viele Originalzitate haben nicht nur einen Klang, sondern auch einen Nachklang. Wir entkommen unserer Geschichte nicht. Ob man sie lebt oder versteckt, sie unter den Teppich kehrt oder ans Licht bringt: Sie ist da.
Was klingt aus dem Kalten Krieg in die Gegenwart nach?
Sicher die ganze Überwachungsthematik. Wenn man sich anschaut, was das neue Schweizer Nachrichtendienstgesetz möglich macht, kommt einem die Überwachung im Kalten Krieg wie eine Kindergartenübung vor. Natürlich ist der Terrorismus eine fürchterliche Bedrohung, müssen wir jedes Attentat verhindern. Aber wo ist die Grenze der Rechtsstaatlichkeit? Ein weiteres Beispiel für den Nachklang sind die Atomwaffen: Die Zitate aus dem Kalten Krieg und aktuell aus dem Nordkoreakonflikt zeugen von der gleichen Sprache der Einschüchterung. Auch die zivile Nutzung der Atomenergie läuft weiter, ohne dass die Entsorgung des nuklearen Abfalls gelöst wäre.
Der Müll des Kalten Kriegs liegt immer noch herum.
Ja, und zwar sinnbildlich wie ganz konkret. Im Schlussbild des Stücks blättert sich der Müll aus dem Eis. Die USA haben in Grönland atomare Abschussrampen gebaut, um geografisch näher an Russland zu sein. Noch während des Kalten Kriegs hat man die Anlagen wegen der Statik aufgegeben und den giftigen Müll im Eis zurückgelassen. In siebzig Jahren wird der ganze Schrott wegen der Klimaerwärmung wieder sichtbar werden.
Andreas Sauter
Der Churer Andreas Sauter studierte szenisches Schreiben an der Universität der Künste in Berlin. Der 43-Jährige hat zahlreiche Bühnenstücke und Hörspiele verfasst. Ausserdem ist er als Koleiter des «Dramenprozessors» am Theater Winkelwiese in Zürich tätig.
Sein Stück «Lugano Paradiso oder So schön wie dieses Jahr hat der Flieder lange nicht geblüht» schrieb Sauter für das Theater St. Gallen. Es ist eine geschickte Stimmencollage aus dem Kalten Krieg: Ein Linksaktivist, ein P-26-Mitglied sowie ein Kaufmann, der von Lugano Paradiso aus Embargohandel mit dem Ostblock betreibt, sprechen nebeneinander her. Dazu kommen Zitate aus der Politik, die befremdlich aktuell wirken.
«Lugano Paradiso» wird am Donnerstag, 22. März 2018, um 19.30 Uhr uraufgeführt, in einer Inszenierung von Jonas Knecht. SchauspielerInnen und TänzerInnen bewegen sich dabei durch die Theater-, Kino- und Kunsträume der St. Galler «Lokremise».
Mehr Infos: www.theatersg.ch.