Von oben herab: Unterm Zahnrad
Stefan Gärtner über die Beherrschung der Zeit
Uhren gibt es ja zumal deshalb, damit die Leute zweimal im Jahr nicht wissen, ob sie ihre Uhr nun vor- oder zurückstellen müssen. Die Generation Smartphone juckt das nicht mehr, weil die Nateluhr sich von selbst stellt, und wer ein Smartphone, aber keine klassische Armbanduhr mehr hat, braucht weder zu wissen, wann die Sommerzeit anfängt, noch wann sie wieder aufhört, noch ob es überhaupt eine Sommerzeit gibt: Er sieht aufs Telefon und weiss Bescheid. Die da oben könnten sogar eine extreme Bizarro-Sommerzeit einführen, nach der die Uhren im Sommer vier Stunden nachgehen, es änderte sich nichts: Immer wäre es auf dem «Gerät» (Günther Anders) so spät, wie es amtlicherweise ist. Toll.
Ich halte es da eher mit dem Fussballtorwart Kahn, dessen Expertise zufolge eine Uhr das einzige Schmuckstück ist, das ein Mann tragen kann. Natürlich kann er seinen Ehering noch tragen, den er aber nicht so einfach wechseln kann, falls er nicht Lothar Matthäus ist, was sich aber nicht empfiehlt. Ich trage Uhren, seit ich ein Schulkind war, und besitze vier Stück, alle mit Automatikwerk: eine alte, billige Seiko, vom Vater geerbt; eine alte, etwas weniger billige Schweizer BWC, die ein wunderschönes grünes Zifferblatt hat; eine «Glashütte» aus der Deutschen Demokratischen Republik, ein Geschenk meiner Frau; und eine Uhr aus Frankfurt am Main, aus vorweggenommener Wehmut beim Wegzug erworben, und zwar bei der einzigen Uhrenfirma Frankfurts, die dann auch noch den hübschen Namen «Sinn» trägt. Das Werk ist freilich aus der Schweiz, wo kämen wir sonst hin; es ist das billigste, das sie hatten, und geht täglich vier Sekunden vor, aber auch nur dann, wenn man hin und wieder seinen Uhrmacher besucht und ihm den Geldwert einer teureren Seiko dalässt.
Die Firma Sinn hat natürlich einen Stand auf der Baselworld, der grossen Schweizer Uhrenmesse, die, höre ich, zurzeit ein wenig in Schwierigkeiten steckt, was aber mehr mit Arroganz zu tun haben soll als damit, dass keine Luxusuhren mehr gekauft würden. Luxusuhren sind im Wesentlichen solche, die immer ganz genau gehen, und zwar rein mechanisch. Wer es wirklich wissen will, kauft sich eine Uhr mit ewigem Kalender, die nicht nur ganz selbstverständlich die verschiedenen Monatslängen berücksichtigt, sondern auch die Schaltjahre. Man braucht also bloss für 168 339 Euro eine Patek Philippe 5270P zu erwerben, und schon muss man seine Uhr die nächsten 200 Jahre so wenig nachstellen wie die auf einem Fünfzigfrankennatel; aber darum geht es natürlich nicht, auch nicht allein um den Distinktionsgewinn, sich solche Handwerkskunst leisten zu können.
Die Uhr gehört zur Aufklärung; Leibniz entwarf das deistische Bild von einem Schöpfergott als Uhrmacher, dem sich dann auch der ewige Kalender verdankt. Es ist die reine Dialektik dieser Aufklärung, dass die feinmechanische Beherrschung der Zeit in die Beherrschtheit von Zeit gemündet ist; von Dietmar Dath stammt der komplementäre Gedanke, dass in der Klassengesellschaft die Macht hat, wer über die Zeit verfügt. Schon der marxsche Mehrwert ist ja nichts anderes als unbezahlte Arbeitszeit, und wer eine Uhr besitzt, die niemals falsch geht, das Dreifache des jährlichen Durchschnittslohns kostet und aus ebenjenen Zahnrädern besteht, zwischen denen Charlie Chaplin so sinnbildlich eingeklemmt war, der ist natürlich Gott.
Solange noch welche an ihn glauben.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.