Walter Steiner: Die Überwindung der Erdenschwere

Nr. 15 –

Ein Film von Werner Herzog verwandelte den Schweizer Skispringer Walter Steiner in eine Legende. Filmreif ist ohnehin das meiste, was er getan hat. Eine Begegnung.

Walter Steiner im Absprung vor Lichtensteig.

Wenn Werner Herzog über den legendären Schweizer Skispringer Walter Steiner spricht, dann landet er schnell beim Nullpunkt: «Der Mann hat fast kein Leben mehr, sondern nur noch Existenz.» Im Interview zu seinem 1974 erschienenen Dokumentarfilm über Steiner spricht der deutsche Regisseur über den Traum vom Fliegen, die «Überwindung der Erdenschwere». Tatsächlich wäre Herzog gerne selber Skispringer geworden, musste aber aufhören, weil er nach dem schweren Sturz eines Freundes Todesangst hatte. Was Steiner tat, musste auf ihn wie die Freisetzung eigener Sehnsüchte wirken. «Die grosse Ekstase des Bildschnitzers Steiner», so der Titel des Films, ist auch Herzogs eigene Ekstase.

Nun sitzt Steiner im ehemaligen Wartesaal des Bahnhofs Lichtensteig. Hier im Toggenburg ist er aufgewachsen und nun hierher zurückgekommen, um eine weitere, späte Würdigung entgegenzunehmen. In der kleinen Ausstellung, die man hier über Steiner eingerichtet hat, sind seine Taten in Bildern, Texten und Artefakten dokumentiert: seine erste Olympiamedaille 1972, seine Holzskulpturen, sein Engagement für den Schanzenbau oder für schonenderes Material für Langläufer. «Unglaublich, was hier alles über mich steht: Ein kulturelles Phänomen sei ich, ein Vogelmensch oder dass ich immer zu weit gesprungen sei», sagt Steiner. «Dabei ist das doch alles völlig übertrieben.»

Kein Leben fürs Rampenlicht

Auch dank Herzogs Film kennt man heute noch Steiners Name. Doch der schüchterne, bescheidene Mann hat nie für den Platz im Rampenlicht gelebt. Schon bald dreissig Jahre lebt er zurückgezogen in der schwedischen Kleinstadt Falun, wo er auch als Restaurator für die schwedische Kirche gearbeitet hat. Er trainiert immer noch hart und ernährt sich strikt nach Paläo-Diät, einer von der Steinzeit inspirierten Ernährung mit möglichst roh belassenen Zutaten und ohne Salz. Während seiner aktiven Zeit war Steiner bekannt dafür, seine Meinung zu sagen. Doch es ist schon lange ruhig um ihn geworden. «Öffentlich äussere ich mich kaum mehr – und wenn ich etwas sage, dann ist es meistens kompliziert.»

Kompliziert wird es vor allem dann, wenn man sich mit Steiner über die Konstruktion der Schanzen und die Probleme unterhält, die er damals erkannte. Ganz anders im Film von Herzog. Die starke Zeitverzögerung der Aufnahmen von Steiners Sprüngen und die eigens für den Film komponierte mysteriöse Musik der Krautrockband Popol Vuh verzerren die Wahrnehmung auf paradoxe Art: Einerseits sehen wir die Bewegungsabläufe viel genauer, andererseits werden diese auch unwirklich und ästhetisiert. Der Film ist eine Verherrlichung, Herzog stellt Steiner als Helden und Märtyrer dar. Doch ein schlechtes Gefühl entsteht dabei nicht.

Herzog suchte bei Steiner nach ähnlichen Themen, wie sie ihn in seinen berühmtesten Filmen beschäftigten: nach menschlichen Grenzen, dem Schmerz, wenn man sie überschreitet, Wahnsinn, Hybris. Herzog hat immer wieder Figuren entwickelt oder dokumentiert, die an solchen Grenzen scheitern: den spanischen Kolonisator Lope de Aguirre, der im Amazonasregenwald nach der Goldstadt Eldorado sucht («Aguirre, der Zorn Gottes», 1972); Brian Sweeney Fitzgerald, der im peruanischen Dschungel ein Opernhaus bauen will («Fitzcarraldo», 1982); oder den Filmer und Tierschützer Timothy Treadwell, der mit gefährlichen Grizzlybären leben und kuscheln wollte («Grizzly Man», 2005).

«Herzog will Menschen filmen, die aussergewöhnlich oder extrem sind», sagt Steiner. «Da kam ich ihm gelegen. Im Gegensatz zum Grizzly Man habe ich es einfach überlebt.» Allerdings sieht es im Film einmal kurz so aus, als hätte es auch Steiner ganz hart erwischt. «Innsbruck 1974 Walter Steiner horrbile (sic) crash» ist eine Szene aus dem Film auf Youtube angeschrieben, die einen fürchterlichen Sturz zeigt. Steiner ist ein wenig genervt vom Bild, das der Film von ihm vermittelt. Herzog schoss diesen im Rahmen einer ARD-Serie zum Thema Grenzerfahrungen und filmte, wohl zur Steigerung der Dramatik, übermässig viele Stürze. «Das hasse ich, wenn für das Spektakel so viele Unfälle und Gefahren gezeigt werden.»

Eine Freude für alle

Doch Steiner ist im Film nicht einfach ein Studienobjekt – er hat eine eigene Botschaft. Sie richtet sich an die Funktionäre des Skiverbands: Der Landehang der Schanzen müsse anders gebaut werden, sonst seien vernünftige Wettkämpfe nicht mehr möglich. Klar, dabei ging es ihm auch darum, dass die Springer nicht in Gefahr sind. Aber vor allem um Fairness und um einen Spitzensport, der nicht nur der Jagd nach Rekorden dient, sondern für alle eine Freude ist. «Einen Satz von mir hat Herzog aus dem Film rausgeschnitten: Skifliegen könnte so schön sein, wenn sie nur auf mich hören würden.»

Steiner und Herzog, so könnte man sagen, haben sich beide für dieselbe Grenze interessiert, doch sie haben sich ihr von der gegenüberliegenden Seite her angenähert.

Auf Steiner aufmerksam wird Herzog aufgrund eines erstaunlichen Ereignisses: Bei der Skiflug-Weltmeisterschaft im österreichischen Oberstdorf fliegt Steiner 1973 mit 179 Metern ganze zehn Meter weiter als der damals bestehende Weltrekord. Weil Steiner den Sprung nicht stehen kann, wird er hinter Hans-Georg Aschenbach aus der DDR dennoch nur Zweiter. Steiner war mit dem absurden Problem konfrontiert, dass er seiner Sicherheit zuliebe schauen musste, dass er nicht zu weit sprang. Im Wettkampf wurde der Anlauf verkürzt und der Durchgang neu gestartet. Nach dem Springen habe Aschenbach zu ihm gesagt: «Du bist der König der Skiflieger, aber mich haben sie zum Weltmeister gemacht.»

Für Steiner war klar: Obwohl gerade neu gebaut, war die Schanze in Oberstdorf der Entwicklung von Technik und Material nicht gewachsen. Steiner konnte seinen 179-Meter-Sprung darum nicht stehen, weil er beinahe im Flachen landete. Im alten Wartesaal des Bahnhofs Lichtensteig nimmt Steiner ein Stück Papier und kritzelt ein paar unterschiedlich gebogene Kurven darauf. Bei den alten Schanzen seien die Weitflieger zu weit vom Hang abgehoben und dafür unten umso härter aufgeschlagen, erklärt Steiner. Bevor die Aufsprungbahn weniger steil wird und ins Flache ausläuft, hätte es einen zusätzlichen Knick gebraucht, um den Übergang sanfter zu gestalten. «So hätte man problemlos eine viel grössere Bandbreite unterschiedlicher Weiten stehen können. Aber sie haben nicht auf mich gehört.»

Herzog ist auch mit der Kamera dabei, als Steiner ein Jahr später im tschechischen Planica mit 169 Metern seinen persönlichen Rekordsprung steht – die Zahl ist noch heute in Steiners E-Mail-Adresse festgehalten. Obwohl im zweiten Durchgang der Anlauf verkürzt wird, hat Steiner erneut mit der Weite zu hadern – beim Sprung auf 177 Meter stürzt er und schürft sich das Gesicht auf. Trotzdem springt er ein weiteres Mal. Wenn er heute davon erzählt, werden plötzlich auch Herzogs Kameras zu Akteuren in dem Schauspiel: «Ich denke, dass ich nach dem Sturz sowieso noch einmal gesprungen wäre, um die Angst im Keim zu ersticken. Aber der Film war ein Grund mehr, es zu tun. Man will ihn ja nicht kaputt machen.»

Mit Technik wettgemacht

Wenn man sich mit Steiner über diese extremen Momente beim Skispringen unterhält, landet man immer wieder im Inneren seines Kopfs. Man sage, achtzig Prozent des Skispringens seien mental, so Steiner. Das erkläre auch, warum es in den Karrieren der Skispringer teilweise heftige Schwankungen gebe. Steiner zeigt auf eine kleine Holzskulptur, die er geschnitzt hat. «Dieses Geistli symbolisiert unsere mentale Arbeit. Die besten Sprünge gelingen intuitiv, nicht mit dem Willen. Es geht um den Fluss der Bewegung, um das Timing.»

Dass Steiner damals plötzlich so weit sprang, hat auch mit dem Kalten Krieg zu tun. «Im Vergleich zu den mit Steroiden vollgepumpten Springern aus der DDR war ich eher schwach, ich musste es also mit Technik wettmachen», sagt Steiner. Als er dann gemerkt habe, dass die Kraft beim Absprung nicht das Wichtigste sei, und die anderen Springer nur noch mehr Kraft einsetzten, um ihn einzuholen, sei er plötzlich allen davongesprungen.

Auch dass Hans-Georg Aschenbach, der später aus der DDR flüchtete und das dortige Zwangsdoping im Spitzensport öffentlich machte, bei der Skiflug-WM 1973 in Oberstdorf trotzdem vor Steiner gewonnen hatte, hängt mit den politischen Kämpfen der Zeit zusammen. «Damals wurde im Hintergrund so viel manipuliert – die DDR-Funktionäre haben die Richter unter Druck gesetzt oder die Reglemente beeinflusst», sagt Steiner. «Weil ich hinter die Kulissen gesehen habe, war ich am Schluss froh, dass ich aufhören konnte.»

Doch von Verbitterung spürt man bei Steiner nichts. Er ist froh, wie sich der Sport entwickelt hat: Die Springen seien heute viel schöner anzusehen und auch fairer als zu seiner Aktivzeit. «Das Einzige, was für mich etwas frustrierend ist: dass ich jetzt, wo die Schanzenprofile endlich so schön sind, nicht mehr springen kann.»