Werner Scheurer (1955–2018): «Ich bin schwul. Ich bin süchtig. Ich bin Kommunist»

Nr. 17 –

Er war Journalist mit literarischen Qualitäten. Aber eigentlich sass Werner Scheurer lieber als teilnehmender Beobachter in den Strassencafés von Kairo. Ein Nachruf.

Gauloise und skeptischer Blick: Werner Scheurer im November 1982 bei einer Diskussion mit der Philosophin Jeanne Hersch. Foto: Gertrud Vogler

Werner war ein scharfsinniger Vertreter eines subjektiven, literarischen Journalismus. Zwar hatte er den klassischen, einer vermeintlichen Objektivität verpflichteten Journalismus im ersten und einzigen Jahrgang der Jean-Frey-Journalistenschule gelernt, aber für die Redaktionen von «Bilanz», «Annabelle», «Züri Leu», in die sie ihn während der Ausbildung steckten und die sich um diesen talentierten Schreiber gerissen haben, war er nicht konzipiert. Stattdessen publizierte er ein Kunstmagazin namens «Die Bagatelle» (sein Fotograf war Walter Pfeiffer) oder arbeitete als Redaktor des «Nachtanzeigers», einer Zeitung der Achtzigerbewegung. Werner war ein eleganter Mann und ein eleganter Schreiber: «Durch einen Wirrwarr, im Lauf der Jahre von immer mehr Trennwänden unterteilte Büros in Youssef Chahines Produktionsgesellschaft Misr International; vorbei am altgedienten Telefonisten, vorbei an Teeboys und Boten, werden wir bis ins Allerheiligste vorgelassen, wo ‹Oncle Jo› und seine MitarbeiterInnen zusammensitzen und die dringendsten Probleme besprechen. Es stehen etliche an.» So lautet der Einstieg des ersten WOZ-Artikels von «Werner Scheurer, Kairo» im August 1996, dessen Titel auch über diesem Nachruf stehen könnte: «Unser alter Jugendlicher».

Der Mann, der nun mit 63 an Krebs gestorben ist, war ein Beispiel dafür, wie man in Würde älter werden kann. Sein Wissen gab er an Jüngere weiter, ohne darauf zu bestehen, im Recht zu sein. Ich habe von Werner, dem WOZ-Redaktor, mehr gelernt als in meinen zwei Jahren Journalistenschule.


«Ich traf ihn 1992 in Kairo, wo er damals wohnte», sagt Patrick Walder, Ex-WOZ-Mitarbeiter. «Werner war ‹streetwise›. Er kam in Kairo auf der Gasse klar, in den ärmsten Vierteln. Er kannte zu jeder Strassenecke eine Geschichte. Wenn man mit ihm über einen Markt schlenderte, dauerte es Stunden, weil er sich an jedem zweiten Stand in ein Gespräch verwickelte. Er war ‹streetwise› auf eine kultivierte Art – ein spezielles Gewürz, ein guter Schneider: Er wusste wo – aber auch auf die wildest mögliche Art. Mit dem Ausleben seiner Sexualität zum Beispiel. Werner kannte die Untergründe.»

Werner lernte seinen Partner Jürg vor 42 Jahren auf dem Skilift kennen: Jürg, ein klassisch gebildeter Philologe, Journalist, Delegierter des IKRK. Werners Bildungsweg hingegen verlief alternativ. Er war ein Mann der Subkulturen und Randzonen: In den achtziger Jahren war er tagsüber Journalist und nachts auf Heroin. Ende der Achtziger reiste er als Informationsbeauftragter für das IKRK nach Peschawar. Tagsüber führte er Medienvertreter durch das Krisengebiet, nachts drückte er Stoff. In Peschawar sass er an der Quelle. Nach einem Jahr trennte sich das IKRK von ihm. Er passe nicht zum Laden, hiess es.

Über seine Drogenerfahrungen hat er immer wieder geschrieben, auch in der WOZ, zum Beispiel 1993 in einem unter Pseudonym veröffentlichten Text. Ein Text, mit dem er mir, als ich Ende 2005 zur WOZ kam, darlegte, wie man Hunter S. Thompsons subjektiven Gonzo-Journalismus ins Jetzt übertragen könne, ohne sich zu überhöhen, ohne Blödelei – das Ich als Türöffner in fremde Welten. Diese Texte waren keine Seelenentblössung (deshalb schrieb er sie zum Teil unter anderem Namen), sondern wurden zur wichtigen Gegenstimme, wie in diesem Land über das Thema Drogen gedacht und geschrieben wurde; sie entstanden in einem letztlich jahrzehntelangen intensiven Dialog mit dem deutschen Sozialwissenschaftler Günter Amendt, einem engen Freund und Vertrauten. Amendts Tod 2011 war ein schwerer Schlag.

«Meine Droge war, während der vergangenen fünfzehn Jahre, Heroin und zeitweise auch Kokain, das ‹Langsame› und das ‹Schnelle›, wie ein Freund die beiden liebevoll nannte. (…) Gerade jetzt hätte ich doch wieder Lust, ‹Sister Morphine› um Erleichterung zu bitten, wie damals. Ich bräuchte eine Pause, nicht Ferien vom Alltag, sondern vom Leben, oder vielleicht einfach Pause von mir selber, vor allem eine Pause in den ewig kreisenden Gedanken, einen Unterbruch im Gschtürm im Hirni, das mich nirgends hinbringt. Einen Augenblick abstellen, die dahinrasenden Denkfetzen, ohne wirklichen Anfang, ohne Richtung, Ziel oder Ende, bremsen und innehalten. Der verdammte Kasten läuft dauernd, die Hirnwindungen sind durch nichts zu überlisten; was sie mir sagen, macht mir keine Freude. Sie stellen alles, was ich tue und bin, in Frage, dabei haben wir alles schon Hunderte von Malen zusammen durchgehechelt, vor- und rückwärts. (…) Half der Heroinschub nicht auch ungemein beim Coming-out? War es mir nicht plötzlich möglich, mit dermassen gelockerter Zunge zuzugeben, dass ich eigentlich ganz gerne … Aber es muss ja nicht sein – die Droge ist ohnehin besser als Sex, und fast wie TV und Video sagt sie nie nein, solange man Geld hat. Jedenfalls fallen Coming-out und Ankicken genau in die gleiche Zeit – das alles mag den Psychiater interessieren, für die Feststellung reicht vorerst ein Kalender.»


Aus einfachen Verhältnissen in der Nähe von Thun stammend, kandidierte Werner als Teenager für den Nationalrat. Für die Partei der Arbeit. «Ich habe meinen Eltern im beschaulichen Berner Oberland alle Freuden gemacht, die ich konnte», sagte Werner über sich. «Ich bin schwul. Ich bin süchtig. Ich bin Kommunist.» Eine Mischung aus Humor und aufrichtigem Bedauern, es den Eltern, denen er nahe war, nicht ganz einfach gemacht zu haben.

Vom «Ankicken» kam er weg, als Jürg und er 1991 nach Kairo zogen. «Wir hatten Lust, Arabisch zu lernen», sagte Werner. Jürg sagt, in Kairo habe sich Werner eine Welt aufgetan, in die er eintauchen konnte. «Das ‹Ineloo› war ein Filter zwischen Werner und der Welt, damit sie nicht mehr so schrecklich war. Diesen Filter brauchte er in Kairo nicht mehr.» Zwei Jahre lang sah man sich selten. Jürg war auf IKRK-Missionen im Sudan und in Somalia, Werner sass vornehmlich in Kairoer Strassencafés, schaute, was läuft. Bald sprach er fliessend Arabisch.

Der Journalismus war ausgerechnet ihm, dem Medienjunkie, der von sich sagte, er sei nicht nur homosexuell, sondern auch «heftlisexuell», gar nicht mehr so wichtig. Zumindest war es ihm nicht wichtig, seinen Namen in der Zeitung zu lesen. Zudem litt er an Perfektionismus. Bald schrieb er nur noch selten. «Werner war auch ein König der Prokrastination, des Aufschiebens», sagt Daniel Hitzig, ein alter Freund. «Er sagte: ‹Nichts ist so dringend, dass es nicht noch ein wenig dringender werden könnte.›»

In den achtziger Jahren, wenn Werner im Heroindelirium in Gesprächen einfach wegdämmerte, sei ihre Beziehung am Abgrund gestanden, sagt Jürg. Sie hielten durch. Ihre Wohnungen, zuerst in Kairo, später in Beirut, wurden soziale Orte, Treffpunkte für Künstler, Journalisten, AktivistInnen, lokale Taxifahrer. Das kürzlich bezogene Haus im Tessin renovierten sie noch gemeinsam.