Sozialpolitik in Griechenland: Ein Kochtopf für alle
Die Krise sei endlich vorbei, behauptet Premierminister Alexis Tsipras. Doch ein Drittel der Bevölkerung lebt weiterhin in Armut. Ein selbstorganisiertes Kollektiv will daran etwas ändern – und hat begonnen, auf der Strasse zu kochen.
Auf dem Varvakios-Markt in Athen riecht es nach rohem Fisch und getrockneten Feigen. Ein Stand reiht sich an den anderen. Die Gassen sind so eng, dass es sogar eine Katze schwer hat, sich durch die PassantInnen zu schlängeln.
Auf diesem Markt kaufen und verkaufen seit hundert Jahren die AthenerInnen ihre Lebensmittel. Zumindest diejenigen, die es sich leisten können. Diejenigen, die es nicht können, sitzen auf den Betonstufen auf der anderen Strassenseite. Meistens warten sie, bis die kaufkräftige Kundschaft verschwunden ist, in der Hoffnung, etwas von den übrig gebliebenen Lebensmitteln abgreifen zu können. Heute aber warten sie auf vier Männer mit verspiegelten Sonnenbrillen und deren voll bepackten Einkaufswagen. Mit einem Klapptisch, einem Kochtopf und einem Banner, auf dem «Free Food for All» geschrieben steht.
Die vier Männer heissen Konstantinos, Dimitris, Yanis und Giorgos. Keiner von ihnen ist gelernter Koch. Dennoch kochen sie hier bis zu drei Mal täglich. Sieben Tage die Woche. Bei Schnee, Regen oder Sonnenschein. Sie sind die «Social Kitchen – the Other Human»: ein Kollektiv, das täglich an einer anderen Strassenecke Essen zubereitet, mit einem alten Metalltopf, einem mobilen Gasofen und dem grossen Banner. Für Obdachlose und Nichtobdachlose. Für Griechinnen und Nichtgriechen. «Nur nicht für Faschisten, denn das sind keine Menschen», sagt Konstantinos Polychronopoulos, der Gründer der Social Kitchen.
Von jedem Marktstand eine Kartoffel
JedeR Dritte in Griechenland lebt in Armut oder an der Armutsgrenze. Polychronopoulos weiss, was das bedeutet: 2010 verlor er seinen Job in der Werbebranche. Er schrieb zahllose Bewerbungen. Vergeblich. Mit 45 Jahren war er zu alt für die Stellen, die es nach der Krise noch gab. Ein Jahr lang bekam er Arbeitslosengeld. Danach war er auf sich alleine gestellt. Er verlor seine Wohnung und zog wieder bei seiner Mutter ein. «Wir lebten vom Pensionsgeld meiner Mutter», erinnert sich Polychronopoulos. «Das waren 600 Euro pro Monat.» Die Hälfte davon verschlang die Miete. Der Rest musste reichen, um sich das tägliche Leben zu finanzieren. Doch das tat es nicht.
Die Krise ist endlich vorbei. Zumindest behauptete das Griechenlands Premierminister Alexis Tsipras in seiner Neujahrsansprache. Im Sommer läuft das dritte Kreditprogramm aus, dann soll Schluss sein mit Sparzwängen und Reformauflagen. Danach gehe es wieder bergauf, verspricht Tsipras. Seit 2016 gebe es jährlich einen geringen Haushaltsüberschuss, die Arbeitslosenquote sinke ebenfalls.
Beim Namen Tsipras macht Polychronopoulos eine abfällige Bewegung mit der Hand. Weder vom griechischen Staat noch von der Regierung und schon gar nicht vom Premierminister will er etwas hören. Er glaube nicht daran, dass sich etwas ändern werde. Zumindest nicht unter dieser Regierung. Und schon gar nicht in diesem System.
Polychronopoulos aber wollte nicht länger warten, sondern gleich etwas verändern. Deswegen begann er, auf der Strasse zu kochen. An den knurrenden Magen, mit dem er zu Bett ging, seit er arbeitslos war, hatte er sich gewöhnt. Nicht aber an das Elend, das zum Alltag wurde. Einmal, als er an einem Markt vorbeiging, sah er zwei Kinder, die sich um verrottetes Obst zankten, das hinter einem Markstand lag. Ihre Hände waren aufgeschürft, ihre Gesichter schmutzig, ihre Arme und Beine mehr Knochen als Fleisch. Keine Passantin, kein Händler ging dazwischen. Sie schauten nicht einmal hin. Solche Szenen waren in Athen zur Normalität geworden.
Also begann Polychronopoulos vor sechs Jahren damit, auf den Markt zu gehen. Dort fragte er die HändlerInnen, ob sie ihm nicht gratis eine Kartoffel, Zucchetti oder Tomate abgeben könnten. Die HändlerInnen waren irritiert. Was will der kleine bärtige Mann denn mit einer einzelnen Kartoffel, Zucchetti oder Tomate? Polychronopoulos antwortete: Wenn jeder etwas gebe, könne er für alle eine Mahlzeit kochen. Damals kochte er für 60 Menschen. Heute sind es mehr als 1500. Täglich.
Nach jedem Satz ein rotes Herz
Auf den Betonstiegen vor dem Varvakios-Markt versammeln sich immer mehr Menschen vor dem Klapptisch der Social Kitchen. Dabei kocht noch nicht einmal das Wasser. Ein Mann mit zerzaustem Haar streicht mit den Handflächen die Falten aus seinem grauen Anzug. Seine Hose sitzt locker. Seine Wangenknochen heben sich von seinem Gesicht ab. Er spricht mit einer Dame, die einen Pelzmantel trägt, obwohl es dafür viel zu warm ist. Um ihren Hals trägt sie eine Goldkette. Ihr Gesicht ist nur schwer zu erkennen. Zu tief vergräbt sie es im Kragen ihres Mantels. Hinter ihr läuft ein junger Mann auf Polychronopoulos zu. Sie umarmen sich. Die Hose des Mannes hat auf einer Seite einen grossen Riss und ist so schmutzig, dass es schwer zu sagen ist, welche Farbe sie einmal hatte. Er klopft mit der flachen Hand auf das Hosenbein, um den Schmutz zu lösen. Dann ist er bereit für eine warme Mahlzeit.
Während die Löhne in Griechenland seit der Krise immer weiter sanken, stiegen die Preise für tägliche Güter und Behausungen. Was also nun für die Miete abgeht, fehlt bei den Lebensmitteln. «Wir sind alle Menschen», sagt Yanis Kotronis, einer der Strassenköche der Social Kitchen, und bricht die Spaghetti in zwei Hälften, bevor er sie ins kochende Wasser wirft. «Ich bin einer. Du bist einer. Und wir alle brauchen etwas zu essen.» Früher war Kotronis oft Gast der Social Kitchen, heute kocht er selbst. Nebenbei schreibt er ein Buch. Mit Papier und Bleistift. Das Buch handle von der Liebe, sagt er. An das Ende jedes Satzes malt er ein rotes Herz, anstatt einen Punkt zu setzen. «Ich fühle mich schlecht, wenn ich esse und andere nicht», sagt er. Deswegen koche er. Jeden Tag. Ohne angestellt zu sein. Ohne Sozialversicherung. Ohne Lohn.
Die Social Kitchen finanziert sich selbst. Alle, die vorbeikommen und Geld übrig haben, können es in die Sammelbox werfen. Und alle, die gerade nichts haben, können und sollen sich auch einen Teller nehmen. Weder der Staat noch grosse NGOs unterstützen das Projekt. Und das soll auch so bleiben. Nur gelegentlich ist Polychronopoulos überhaupt zu Gesprächen mit nichtstaatlichen Organisationen bereit. So wie heute. Die Vertreterin einer regionalen NGO ist gekommen, um mit ihm über eine Zusammenarbeit zu reden.
Aber das Geschäftliche interessiert Polychronopoulos nicht. Die elegant gekleidete Frau hat Mühe, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, offenbar hat er Wichtigeres zu tun. Mitten im Gespräch geht er weg, schnappt sich eine Portion Nudeln und setzt sich neben einen alten Mann. Er hält ihm den Teller hin und überredet ihn zu essen. Polychronopoulos bleibt bei ihm, bis er die letzte Nudel aufgespiesst hat. Dann erst geht er wieder zur Vertreterin der NGO.
Die unabhängige Finanzierung ist nicht immer leicht. Aber sie funktioniert. Auch eine kleine Wohnung kann die Social Kitchen mittlerweile bezahlen. In einem der Zimmer lebt Polychronopoulos mit seiner Freundin. Der Rest gehört allen, die eine Bleibe brauchen. Dauerhaft oder temporär. Ob morgens für eine Tasse Kaffee, eine heisse Dusche oder einfach nur einen Plausch. Irgendwer ist immer anzutreffen im Wohnzimmer für alle.
Einer, der dauerhaft dort lebt, ist Dimitris Teloniatis. Er ist auf Lesbos aufgewachsen, einer Insel, die bis vor wenigen Jahren vor allem für ihre Strände, das Meer und Hotelanlagen bekannt war. Seit 2015 kennt man sie, weil Menschen auf der Flucht nach einer lebensgefährlichen Fahrt im Schlauchboot an der Küste stranden. Polychronopoulos war 2015 nach Lesbos gereist, um diejenigen zu bekochen, die noch weniger hatten. Dort lernten er und Teloniatis sich kennen. Gemeinsam versorgten sie 9000 Menschen pro Tag mit Essen. Sieben Monate lang. Das erzählt Teloniatis, während er im Kochtopf die Spaghetti umrührt. Nicht mit einem Löffel, sondern mit einem Ruder. Er tippt mit dem Zeigefinger auf den Holzstiel. Das Ruder ist ein Geschenk von Geflüchteten. Sie wollten sich für den herzlichen Empfang und die warme Mahlzeit bedanken. Aber mehr als Kleidung am Körper hatten sie nicht bei sich. Also bekamen Polychronopoulos und Teloniatis die Ruder.
2016 zog Teloniatis dann nach Athen. Er hatte einen Job gefunden. Aber nach nur wenigen Monaten kündigte er wieder, da sein Lohn ihm nicht ausbezahlt wurde. Seither schläft er nachts in der Wohnung der Social Kitchen, tagsüber kocht er. Mit dem Ruder, das er geschenkt bekommen hat.
Kein Gaskocher ist illegal
Teloniatis reicht einem schwarzen Mann einen Teller Nudeln. Dieser greift ihn mit der rechten Hand. In der linken hält er eine Plastiktüte. So wie viele andere Menschen in der Strasse. Plötzlich packen ihn vier Hände unter den Achseln, lösen seine Füsse vom Boden und drehen ihn um die eigene Achse. Der Mann kehrt dem Essen den Rücken und schaut auf die gepolsterte Brust zweier Polizisten. Beide einen Kopf grösser als er. Sie beginnen, ihn abzutasten. Von Kopf bis Fuss. Die Beamten sagen, er habe eine Jeans gestohlen. Der Mann schüttelt energisch den Kopf. Teloniatis stellt sich dazwischen, fasst einen Polizisten an der Schulter und sagt, dass er den Mann kenne und wisse, dass dieser nicht stehle. Sie sollen ihn doch in Ruhe essen lassen. Die Polizisten durchsuchen ihn weiter. Mehrmals. Schliesslich geben sie auf, weil sie nichts finden.
Dimitris Teloniatis erzählt, dass PolizistInnen öfter neben der Essensausgabe stünden. Auch Polychronopoulos wurde schon zweimal verhaftet, weil er an der Strasse gekocht hatte. Angeblich soll der Gaskocher dort nicht erlaubt sein. Und so wurde der Strassenkoch abgeführt.
Andere wollten Polychronopoulos und die Social Kitchen für ihre Arbeit mit Preisen auszeichnen. Polychronopoulos lehnte diese jedoch ab. Er mache das doch nicht, weil er Anerkennung suche. Er selbst habe keine andere Wahl. Ohne die Social Kitchen bliebe auch ihm nur ein Leben in Armut. Ein einsames, ohne Gemeinschaft. «Griechenland ist nun einmal eine Laborratte des Kapitalismus», sagt er. «Eine, die fast schon gestorben ist.»