In der Blitzdemokratie
Mittwoch, 1. Juli: In einem Amphitheater erläutern zwei junge Griechen, was sie vom Referendum erwarten – und nachts zeigt sich die Originalität und die Dringlichkeit von Demokratie.
Am Eingang zur Metro leuchten rote Warnlampen. Doch sie bedeuten nicht, dass man stehen bleiben soll: Passieren! Der öffentliche Verkehr ist für die Bevölkerung kostenlos. Alles steht auf rot und alles läuft trotzdem weiter. Das ist der Zustand von Athen an diesem ersten Tag, an dem die Regierung die Schulden beim Internationalen Währungsfonds nicht weiter bedient hat. In den Strassen ist die Anspannung spürbar. Am späten Nachmittag wird es plötzlich ruhig, ist nur noch eine Stimme zu hören, aus den Bars und den Autoradios: Ministerpräsident Alexis Tsipras hält eine Ansprache und bekräftigt nochmals, dass er es ernst meint mit dem Referendum am Sonntag. Er ruft eindringlich zu einem Nein auf.
Von «Blitzdemokratie» sprechen die internationalen Medien, halb besorgt und halb spöttisch. Was der Begriff heissen kann, ist gegen Abend im Stadtteil Vyronas zu beobachten. In einem kleinen Park mit Amphitheater hat die Regierungspartei Syriza zu einer Diskussion geladen. Sie wirkt wie eine Landsgemeinde in der Schweiz: Minus Folklore, plus Dringlichkeit. Demokratie ist, wenn sie sich ereignet. Dreihundert Menschen dürften es sein, die aus der Nachbarschaft herbeiströmen. Vorne sitzen die älteren Leute auf Plastikstühlen, hinten im Kreisrund viele Junge. Ein leichter Wind geht, aus den Boxen klingt Musik. Dann steht Primikiris Vasilis vom Parteikomitee der Syriza Rede und Antwort zur Abstimmung. Hinter ihm prangt ein Transparent mit der Aufschrift: «Nein zum Sparen, Ja zur Würde!»
«Es geht um Politik!»
Gekommen sind auch Giannis Konstantinidis und Thodoris Katapodis, beide 29 Jahre alt. Konstantinidis arbeitet als Buchhändler, 500 Euro verdient er im Monat. Das reicht nicht für eine eine eigene Wohnung, er muss bei den Eltern wohnen. Katapodis ist Ingenieur, arbeitete zwei Jahre am Cern in Genf. Dann kehrte er zurück, wegen dem Militärdienst und weil er sein Wissen einbringen wollte. Nun ist er arbeitslos und aktiv bei Syriza.
Flüsternd erklären mir die beiden im Amphitheater, worum es am Sonntag geht. Giannis Konstantinidis sagt: «Hör zu, es geht hier nicht um Ökonomie, es geht um Politik. Die Gläubiger wollen eine linke Regierung absetzen, weil sie ihnen nicht passt.» Thodoris Katapodis: «In den USA hatte man für die Banken 700 Milliarden Dollar. Griechenlands Schulden betragen 300 Milliarden Euro. Die Banken konnte man retten, die Bevölkerung lässt man hängen.» Konstantinidis: «Es geht hier auch nicht um Griechenland allein. Es geht in diesem Fight um ein solidarisches Europa, den die reformerischen Kräfte in allen Staaten führen müssen.» Was erhoffen sich die beiden selbst vom Referendum, für ihren Lebensalltag? Bessere Löhne? «Hoffnung», sagt Konstantinidis.
In Gesprächen wie diesem wird mir vollends klar: Was auf Seiten der EU als Debatte über Schulden und Sparen inszeniert wird und in vielen Medien als Kontrollversuch eines Staatenbundes über ein quengelndes, kindisches Mitglied erscheint, wird von vielen GriechInnen anders wahrgenommen: Sie fordern tatsächlich die berühmte Alternative zum Neoliberalismus, deren Möglichkeit die britische Premierministerin Margreth Thatcher einst verneinte. Und sie haben, gebeutelt von der Wirtschaftskrise, mit dem Aufbau dieser anderen Gesellschaft längst begonnen.
Den Kreis brechen
Nur ein paar Häuserblocks weiter befindet sich in einem Park ein solidarischer Quartiertreff. Alexandros Patramanis erläutert das Konzept. Obwohl es längst dunkel ist, kreischen um ihn herum spielende Kinder. Täglich gibt es hier Kurse, in politischer Philosophie, in Fremdsprachen, in Tai Chi. Zweimal die Woche gibt es gratis ein Essen. «Wir wollen den Kreis von Staat und Markt brechen», sagt Patramanis. «Fern der Verwaltung schaffen wir einen öffentlichen Raum für die Bürgerinnen und Bürger.»
Der Quartiertreff ist nicht die einzige solidarische Initiative in Vyronas: Eine andere versorgt die mehr als 600 Bedürftigen mit Nahrungsmitteln. Das ist praktische Nothilfe, aber eben auch eine konkrete Utopie: «Wir sehen unsere Arbeit als Experiment, wie eine künftige Gesellschaft aussehen könnte», sagt Patramanis. Und schiebt nach: «Ein Ja am Sonntag zur Sparpolitik der EU wäre schlecht für die Leute, aber auch für Strukturen wie diese».
Gibt es ein Nein, gibt es ein Ja? Niemand will sich derzeit festlegen in Athen. Zumindest auf der Strasse ist das «ochi», das Nein, omnipräsent. Selbst vom Amtssitz von Finanzminister Yanis Varoufakis flattert es, und für alle, die es hören wollen, auch auf Englisch: «No to blackmail and austerity!» Nein zur Erpressung und Austerität.
Die Blitzdemokratie bringt die BürgerInnen auf spontane, originelle Ideen. Spätnachts wird im Park Navarino im Stadtteil Exarchia der Film «No!» von Pablo Larrain gezeigt. Er handelt von geschickten jungen WerberInnen, die 1988 die Transformation von Pinochets Chile einläuteten. Der Park Navarino, in dem der Film nun läuft, war einst ein Parkplatz, dann hat sich die Bevölkerung vor sechs Jahren mit Urban Gardening seiner bemächtigt. Heute wachsen die Bäume in die Höhe. An einem Abhang sitzen die Leute dicht an dicht. Und auf der Leinwand singt der chilenische Werbechor: «No, me gusta no! No, no, no!»
Alle bereits erschienenen Blogbeiträge finden Sie im Blog «Heisse Tage in Athen»