ÄthiopierInnen in der Schweiz: Legal hier leben: Unmöglich. Bei Rückkehr: Knast

Nr. 24 –

Oppositionelle ÄthiopierInnen in der Schweiz sind bedroht. Eine geheime Vereinbarung zwischen der EU und Äthiopien werde zwar nicht angewendet, Ausschaffungen seien aber trotzdem möglich, heisst es beim Bund.

«Ich bin der Erste, der zurückgeht», ruft Brehan Ezkeiel aus, «wenn sich die Politik wirklich ändern würde!» Ezkeiel ist Äthiopier und seit sechs Jahren in der Schweiz. Das ist nicht sein richtiger Name, denn die Rechtswege sind ausgeschöpft: Ezkeiel lebt als abgewiesener Asylbewerber im Aargau von ein paar Franken Nothilfe pro Tag und darf den Kanton nicht mehr verlassen. In Äthiopien arbeitete er für die Kirche. Auch in der Schweiz gibt es äthiopisch-orthodoxe Kirchgemeinden, aber keine im Aargau. Er schlafe die meiste Zeit, sagt Brehan Ezkeiel. Das Zimmer teilt er sich mit sechs Leuten. Auch Rassismus erlebt er in seinem Zwangszuhause. All das frustriert ihn. All das ist aber nicht der Grund, weshalb er zurückginge, würde sich Äthiopien ändern: Dort lebe seine kleine Tochter bei ihrer Grossmutter. Die Grossmutter sei krank, die Mutter seines Kindes tot. Ezkeiel möchte zu seiner Tochter.

Neuer Kopf, altes Regime

Anfang April wurde nach monatelangen Unruhen, Hunderten Toten und Tausenden Verhaftungen der neue äthiopische Premier Abiy Ahmed eingeschworen (vgl. «Mediator und Militärkarrierist» ). Seither hat er den Ausnahmezustand beendet, Gefangene wieder freigelassen und den Grenzkonflikt mit Eritrea beendet. «Das System ist trotzdem noch das gleiche», sagt Ezkeiel. Premierminister Abiy entlässt langjährige Minister, Militärs und Geheimdienstler, ersetzt sie aber mit Leuten aus der zweiten Reihe. Diese entstammen dem autoritären Apparat ebenso wie Abiy selbst. Ezkeiel erzählt, weshalb er geflüchtet ist: Zweimal sei er im Gefängnis gewesen. Dazwischen und danach habe ihn der äthiopische Geheimdienst NISS observiert, bis er sein Haus nur noch nachts verlassen habe.

Zu den Freigelassenen von Abiys ersten Amtsmonaten gehört auch der bekannte Oppositionelle Andy Tsege. Der NISS hat den britischen Bürger im Jemen vor vier Jahren direkt aus dem Flughafenwarteraum entführt. Tsege ist einer der Anführer der Oppositionspartei Ginbot 7. Daniel Brazin, der in Wirklichkeit anders heisst, engagiert sich in der Schweizer Diaspora bei Ginbot 7. «Ich bin ein einfaches Parteimitglied, ich bin nicht berühmt», sagt er. Er glaubt, dass man ihn verschwinden lässt, wenn er äthiopischen Boden betritt. Brazin sagt, er sei im äthiopischen Gefängnis bereits ein halbes Jahr lang gefoltert worden. Auch sein Asylantrag wurde abgelehnt, aber über den Fall befindet momentan noch der Antifolterausschuss der Uno. Bis dieser entschieden hat, lebt auch Brazin von Nothilfe. Was würde er machen, falls er ausgeschafft wird? «Vielleicht bringe ich mich hier in der Schweiz um. Es ist noch die beste Option.»

Saba Belaye, ebenfalls Ginbot-7-Mitglied, pflichtet ihm bei: «Wir wissen, was passiert, wenn wir zurückkehren.» Belaye, die auch nicht so heisst, ist aus politischen Gründen, aber auch vor ihrem Ehemann geflohen. Erst ging sie nach Dubai. Als sie ihr brutaler Ehemann drei Jahre später ausfindig gemacht hatte, flüchtete sie in die Schweiz. In Dubai arbeitete Belaye als Haushaltshilfe. «Es war so hart. Darüber kann ich nicht sprechen», sagt sie. Belaye hat Minuten davor zustimmend genickt, als die anderen beiden über die sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen von ÄthiopierInnen im Nahen Osten gesprochen haben. Als das Wort «Vergewaltigung» fällt, sagt sie: «Yeah.» Auch Belayes Asylantrag wurde von allen Instanzen abgelehnt. Von ihren paar Franken Nothilfe stottert sie in Monatsraten eine Strafe von 1300 Franken ab. Ihr Vergehen: illegaler Aufenthalt in der Schweiz. Die drei ÄthiopierInnen sind verzweifelt.

Geheime Vereinbarung

Bis zu diesem Jahr waren Zwangsausschaffungen nach Äthiopien fast nicht möglich. Während des Höhepunkts der Unruhen machten Diasporamedien die Entwurfsfassung einer geheimen Vereinbarung zwischen der Europäischen Union und Äthiopien öffentlich. Darin erklären Äthiopien und die EU ihren gegenseitigen Willen, bei Ausschaffungen künftig zu kooperieren. Im Entwurf vom Dezember wird das Prozedere detailliert erklärt: Der äthiopische Geheimdienst NISS erhält die Daten jener, die ausgeschafft werden sollen, und befindet über ihre Staatsangehörigkeit. Falls das aus der Ferne nicht möglich ist, interviewt die äthiopische Botschaft die mutmasslichen ÄthiopierInnen. Äthiopische Geheimdienstler können für eine «Mission» zur Identitätsabklärung sogar nach Europa eingeladen werden. Die Kosten dafür trägt der jeweilige europäische Staat.

Die Aufgabe des Geheimdienstes ist es laut Selbstdefinition, «Frieden, Entwicklung und Demokratie voranzutreiben». Dabei war die Entführung von Andy Tsege aus dem Jemen keine Ausnahme. Der äthiopische Sicherheitsapparat verfolgt Oppositionelle innerhalb und ausserhalb des Landes, überwacht die Telekommunikation, sperrt kritische Websites und nutzt Überwachungssoftware aus Italien, Israel und Deutschland. Der neue Premier war Mitgründer und bis 2010 selbst Direktor der INSA, der Internetzensur- und Telekommunikationsüberwachungsbehörde.

Die geheime Vereinbarung mit der EU ist seit Februar 2018 in Kraft. Anfang April verkündeten Schweizer Medien, dass sie auch in der Schweiz Anwendung finde. Das stimme nicht, erklärte Ende Mai der Schweizer Botschafter in einem Brief aus Addis Abeba an einen Schweizer Asylrechtsaktivisten. Auch eine Sprecherin des Staatssekretariats für Migration (SEM) bestätigt der WOZ die Nichtbeteiligung der Schweiz. Weiter schreibt sie: «Die Zusammenarbeit im Rückkehrbereich kann ohne Abkommen gut funktionieren. Gleichzeitig kann diese Zusammenarbeit aber auch trotz bestehender Abkommen schlecht oder gar nicht funktionieren.» Vor dem Vollzug werde geprüft, dass den Weggewiesenen im «Heimatstaat keine asylrelevante Verfolgung droht». Ein Äthiopier wurde dieses Jahr bereits zwangsausgeschafft (Stand Anfang Juni).

«Raus!»

Die doppelte Staatsgewalt hat den drei ÄthiopierInnen jede Perspektive genommen. Ein legales Leben in der Schweiz: unmöglich. Eine Rückkehr: unmöglich. Die Zwangsausschaffung: immer wahrscheinlicher.

Davon, dass der Arm der äthiopischen Behörden bis in die Schweiz reicht, sind sie schon lange überzeugt. Dafür braucht es kein Abkommen: Ihre Protestaktionen seien fotografiert worden. Regierungstreue ÄthiopierInnen passten sie ab und forderten sie auf, ihr politisches Engagement zu beenden. Vor einem Jahr wurde die Diaspora in die äthiopische Botschaft in Genf eingeladen. Die Oppositionellen waren nicht mitgemeint, aber sie kamen trotzdem. Ein Video zeigt, was dann passierte: «Das ist keine Verhandlung! Raus!», schreit ein Botschaftsmitarbeiter. Ein anderer geht an einem Polizisten vorbei und reisst die Kamera des Oppositionellen herunter. Ein Foto zeigt einen geschwollenen Finger. Zwei Verletzte habe es gegeben, erzählen die ÄthiopierInnen. Und mit Nachdruck: Gewalttätig seien nicht die Polizisten gewesen. Die äthiopische Botschaft reagierte auf Anfrage der WOZ nicht. Auf der Website der Botschaft heisst es: «Es ist wichtig, gegen das ‹Vertrauensdefizit› in der Diaspora mit nachhaltiger Partnerschaft und durch grössere Transparenz vorzugehen.»

«Vereinbarungen im Rückkehrbereich» und keine «asylrelevante» Verfolgung auf der einen Seite; «Vertrauensdefizit» auf der anderen Seite. Die Sprache des Schweizer Asylregimes und die der äthiopischen Offiziellen ist jedenfalls dieselbe.