Deutscher Linksnationalismus: Die Rechtsrückerin

Nr. 24 –

Auf ihrem Konvent in Leipzig bekennt sich die Linkspartei zur Forderung nach offenen Grenzen. Der seit Monaten vor allem von der Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht befeuerte Richtungskampf in Sachen Migration dürfte aber weitergehen.

Was genau passiert eigentlich, wenn Gesellschaften nach rechts abdriften? Der Vormarsch autoritärer Kräfte in Europa, ihre Erfolge an den Wahlurnen, ihre rassistischen Provokationen – all das bestimmt seit Monaten die öffentliche Debatte. Indiz für den Triumphzug der Reaktionären ist aber auch, dass im progressiven Lager plötzlich Positionen auftauchen, für die man vor kurzem noch geradewegs des Plenums verwiesen worden wäre. Nicht nur eine Verschiebung des Sagbaren ist festzustellen, sondern auch, dass das, was eigentlich das Bollwerk gegen diese Verschiebung bilden sollte, brüchig wird.

Dieser Vorgang lässt sich seit geraumer Zeit an der deutschen Linkspartei beobachten, was vor allem an einer Person liegt: Sahra Wagenknecht. Die mit Abstand populärste Politikerin der Partei streut seit Monaten systematisch Äusserungen in den Medien, die mehr oder weniger subtil darauf abzielen, die Position der Linken in der Flüchtlings- und Migrationspolitik nach rechts zu verschieben. Mal stellte Wagenknecht einen Zusammenhang her zwischen «der unkontrollierten Grenzöffnung» und islamistischem Terror, mal sprach sie von verwirktem «Gastrecht», mal warnte sie vor dem wachsenden Konkurrenzdruck, der Prekären angeblich durch Zuwanderung erwachse.

Marx und Protest

In der deutschen Linkspartei rumort es deswegen, was bei ihrem sechsten Bundesparteitag am vergangenen Wochenende in Leipzig nicht zu übersehen war. Schon vor der Kongresshalle wurden die Delegierten nicht nur von einer knallroten, überdimensionierten Karl-Marx-Puppe begrüsst, sondern auch von einem knappen Dutzend Demonstrierender; eine migrantische Gruppe namens «Jugendliche ohne Grenzen» reckte den eintreffenden GenossInnen ein Banner entgegen, auf dem zu lesen war: «Wir lassen uns nicht einteilen in gute und schlechte Migranten – nicht von der Regierung und nicht von euch!»

Allerdings ist Wagenknecht weit davon entfernt, die Mehrheit der Partei zu repräsentieren. In dieser hat die Politikerin, die die linke Bundestagsfraktion anführt, zwar nach wie vor viele Verbündete; Wagenknechts eigentliche Machtbasis ist aber ihre durch mediale Präsenz befeuerte Beliebtheit in der Bevölkerung. Die 47-Jährige tritt dafür auch schon mal in Fernsehkochshows auf. Die Meinung der Parteibasis interessiert sie dagegen eher am Rand, was die «Süddeutsche Zeitung» treffend mit den Worten beschrieb, Wagenknecht würde «abseits der Partei und deren Gremien ihrer eigenen politischen Agenda folgen» – gleichsam eine Spitzenfunktionärin auf Autopilot also.

So überraschte es nicht, dass sich nicht nur vor dem, sondern auch im Tagungssaal Kritik an der Fraktionsvorsitzenden artikulierte. Den Anfang machten Sinem Ergüzel und Paul Gruber von der Linksjugend; die beiden geisselten Wagenknecht für deren den Parteibeschlüssen zuwiderlaufende «Medienkampagne». Ergüzel sagte nach ihrer Ansprache an die Delegierten zur WOZ, dass die «fragwürdigen Statements» der Fraktionsvorsitzenden die Arbeit des Nachwuchsverbands deutlich erschwere; gerade MigrantInnen würden dadurch von einem Engagement abgeschreckt.

Wagenknecht hat in der Partei aber noch weitaus prominentere GegnerInnen, allen voran die beiden Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger. Das Duo hatte in Leipzig einen Antrag eingebracht, den die Partei mit deutlicher Mehrheit verabschiedete. Im mehrseitigen Dokument heisst es ausdrücklich: «Wir wollen das Sterben im Mittelmeer und an den europäischen Aussengrenzen beenden. Dafür brauchen wir sichere, legale Fluchtwege, offene Grenzen und ein menschenwürdiges faires System der Aufnahme von Geflüchteten und einen Lastenausgleich in Europa.»

Für die «Anti-Abschiebe-Industrie»

Zwar erhielten die Vorsitzenden bei ihrer Wiederwahl mässige Ergebnisse – was angesichts der monatelangen Querelen zu erwarten war; ihre Reden, in denen sie ihre migrationspolitischen Positionen verteidigten, quittierten die Delegierten jedoch mit Jubel, genauso wie übrigens auch diejenige der linksaussen stehenden Janine Wissler, die mit bemerkenswert vielen Stimmen zur stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt wurde. Die 37-jährige Hessin hatte sich einen Kampfbegriff der Rechten angeeignet und vom Podium gerufen: «Es lebe die Anti-Abschiebe-Industrie!»

Eine Entscheidung des Konflikts also? Mitnichten. Als Wagenknecht ans Rednerpult trat, bekannte sie sich zwar zum Asylrecht und zum Schutz von Kriegsflüchtlingen; fast im selben Atemzug aber wandte sie sich gegen ArbeitsmigrantInnen, die angeblich die unteren Klassen ökonomisch unter Druck setzten. Das Unbehagen im Saal war in diesem Moment mit den Händen zu greifen; es gab Buhrufe, eine Gruppe Delegierter hielt ein Transparent mit der Aufschrift «Refugees welcome – Racists not!» in die Höhe und verliess in einem stillen Protestmarsch den Saal.

Dabei hatte sich Wagenknecht in ihren Augen nur an den zuvor gefassten Beschluss gehalten: Demnach sei das von Kipping und Riexinger eingebrachte Papier das Ergebnis eines Kompromisses, da darin zwar «offene Grenzen», aber eben nicht «offene Grenzen für alle» gefordert werden; ausserdem sei dort die Frage der Arbeitsmigration gar nicht thematisiert. Diese Argumentation zeugt von einer Interpretationsfreude, der man ansonsten eher im philologischen Seminar begegnet, und belegt zugleich, dass Wagenknecht keineswegs daran denkt, sich von ihrer linksnationalen Programmatik zu verabschieden. Darauf deutet auch ihre – bislang allerdings nur vage – Ankündigung hin, eine parteiübergreifende Sammlungsbewegung gründen zu wollen.

Genau in diesem Linksnationalismus liegt das eigentliche Problem. Wagenknecht repräsentiert eine Strömung, die zwar für Umverteilung streitet, dies aber auf deutsche BürgerInnen beschränkt wissen will. Vielsagend ist dabei, dass ihr engster Verbündeter und Ehemann Oskar Lafontaine schon vor mehr als zehn Jahren davon gesprochen hat, «dass Familienväter und Frauen arbeitslos werden, weil Fremdarbeiter zu niedrigen Löhnen ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen».

Wer so redet, hat offenkundig Schwierigkeiten, die Farben Rot und Braun noch auseinanderzuhalten. Dergleichen nationale Tendenzen sind indes nicht nur in der deutschen Linken zu beobachten: Symptomatisch ist etwa, dass auf Kundgebungen des französischen Volkstribuns Jean-Luc Mélenchon mittlerweile keine roten Fahnen mehr geschwenkt werden, sondern die Trikolore. Ähnliches gilt für das Lavieren der englischen Labour Party in Sachen Brexit. Der Grund für diese Desorientierung dürfte dabei weniger in individueller Niedertracht liegen denn in konzeptueller Hilflosigkeit: Wie genau sieht denn etwa eine linke Alternative zur neoliberalen Globalisierung aus, die nicht in bornierte Kleinstaaterei zurückfällt?

Erinnerungen an 1907

Noch hat es nicht den Anschein, als könnte sich die nationale Linie in der deutschen Linken durchsetzen. Gregor Gysi, lange eine prägende Figur in der Partei, hielt in Leipzig ein Plädoyer für den Internationalismus – ohne dabei Namen zu nennen, aber in der Sache unmissverständlich. Jüngere GenossInnen wie Niema Movassat wurden expliziter. «In Zeiten des Rechtsrucks künstlich zwischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen trennen und über Begrenzungen diskutieren zu wollen, ist politisch völlig der falsche Ansatz», sagte der 33-jährige Bundestagsabgeordnete der WOZ. Movassat erinnerte an den Stuttgarter Sozialistenkongress 1907, auf dem linke Ikonen wie Clara Zetkin oder Rosa Luxemburg explizit gegen Einwanderungsverbote Stellung bezogen hätten.

Vor hundert Jahren setzte sich am Ende dennoch der nationale Chauvinismus durch, es folgte die Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Nicht nur die deutsche Linke täte gut daran, sich diese Geschichte noch einmal genau zu vergegenwärtigen.