Justiz: Wenn die Polizei nachts klingelt

Nr. 26 –

Ohne Durchsuchungsbefehl dringen Polizisten mitten in der Nacht in die Wohnung eines unbescholtenen älteren Ehepaars ein, setzen Gewalt ein und verhaften das Paar. Die Geschichte eines unverhältnismässigen Polizeieinsatzes, der am Mittwoch in Zürich vor Bezirksgericht verhandelt wurde.

Der 30. Juni 2017 ist erst zwei Stunden alt, als das Ehepaar Studer aus dem Schlaf gerissen wird. Jemand klingelt Sturm an ihrer Wohnung in Zürich Wiedikon. Studers haben einen Gast in jenen Tagen. Ruedi Studer (72) denkt, dass dieser den Schlüssel im Milchkasten nicht gefunden hat, und öffnet, nur mit einem T-Shirt und Shorts bekleidet, die Wohnungstür. Dort stehen aber zwei Verkehrspolizisten, in ihrer Mitte eine gute Freundin von Frau Studer namens Betty D.*, eine klein gewachsene fünfzigjährige Frau, eine Brasilianerin wie Frau Studer. Ob sie reinkommen könnten, fragen die Polizisten. Ob sie einen Durchsuchungsbefehl hätten, fragt Studer. Haben sie nicht. Sie würden D.s Pass suchen. Diese habe sich bei einer Verkehrskontrolle nicht ausweisen können, und die Polizisten verdächtigten sie des illegalen Aufenthalts.

Betty D. hat vor einiger Zeit einige Male bei Studers übernachtet, während deren Ferien die Pflanzen gegossen. Ruedi Studer sagt der Polizei, er wisse nichts von einem Pass, worauf die Polizisten D. an die Treppenhauswand stellen, um ihr Handschellen anzulegen. Rosangela Studer, die mittlerweile dazugestossen ist, fasst nach dem Arm ihrer Freundin. Auch Ruedi Studer protestiert und sagt, das sei doch übertrieben. Da sprüht ihm Polizist S.* unvermittelt Pfefferspray ins Gesicht. Studers Augen schwellen zu, er ringt nach Luft.

«Ich hatte Angst zu erblinden. Irgendwie geriet ich nach draussen», erzählt Ruedi Studer. «Polizist F.* kam zu mir, sagte dabei immer wieder, dass sein Kollege überreagiert habe. Nun behauptet er, nie so etwas gesagt zu haben.» Polizist F. begleitete ihn ins Bad, Rosangela Studer half ihm in die Badewanne. Betty D. war mittlerweile im Polizeiauto eingesperrt. Polizist F. setzte sich mit Ruedi Studer an den Küchentisch. Die Situation schien sich beruhigt zu haben.

Im Pyjama abgeführt

Doch dann traf Verstärkung ein. Ein halbes Dutzend Polizisten standen in der Wohnung und verlangten die Ausweise. Rosangela Studer sah ihren Mann mit aufgedunsenem Gesicht, immer noch nach Atem ringend, am Küchentisch sitzen und wollte zu ihm. «Da warfen sie mich auf den Boden, knieten zu dritt auf meinen Rücken und legten mir Handschellen und Fussfesseln an. Ich schrie vor Schmerzen, ich habe seit Jahren Rückenprobleme.» Als Ruedi Studer zu seiner Frau wollte, wurden auch ihm die Arme auf den Rücken gedreht und Handschellen angelegt. Betty D. und das Ehepaar Studer – noch immer im Pyjama – wurden auf die Wache im Hauptbahnhof gebracht.

Studers sollten wegen Kollusionsgefahr gut 36 Stunden inhaftiert bleiben. Sie wurden fotografiert, man nahm DNA-Proben von ihnen. Den Alkoholtest verweigerte Frau Studer: «Es tut nichts zur Sache, ob ich vorher getrunken hatte oder nicht. Ich war nicht am Autofahren, sondern in meinem Zuhause.» In Ruedi Studers Zelle gab es weder eine Matratze noch eine Toilette. Er musste sich auf den nackten Boden legen, nur mit einer Trainerjacke und Pyjamashorts bekleidet. Einmal durfte er aufs WC – in Handschellen und in Begleitung eines Schäferhunds. Die nächsten Male reagierte niemand auf sein Klingeln. Also pinkelte er in einen Becher und später auf den Boden. «Es war sehr entwürdigend.» Stunden später wurde das Ehepaar in das Untersuchungsgefängnis auf dem Zürcher Kasernenareal verlegt. Am Folgetag wurden sie nacheinander der Staatsanwältin vorgeführt, die sie mit einem Strafbefehl entliess. Studers waren angeklagt wegen Erleichterung des illegalen Aufenthalts, Gewalt und Drohung gegen Beamte und Hinderung einer Amtshandlung. D. kam nicht mehr frei. Sie wurde fünf Tage später nach Brasilien ausgeschafft.

Blutergüsse und Albträume

«Es war unglaublich brutal und entwürdigend», sagt Rosangela Studer wenige Tage vor dem Gerichtsprozess gegen sie und ihren Mann. «Das Ganze kommt mir bis heute völlig absurd und surreal vor.» Betty D. sei ja offensichtlich schon verhaftet gewesen, als sie vor ihrer Tür gestanden habe. Wie hätten sie die Verhaftung da noch verhindern wollen. «Wir hatten nicht vor, uns mit den fünf Polizisten in unserer Wohnung zu prügeln», sagt Rosangela Studer trocken. Sie zeigt Handyfotos von ihren Verletzungen: Blutergüsse über der rechten Augenbraue, an Schulter, Oberarmen, Hand- und Fussgelenken. Eine lange Schürfwunde an Ruedi Studers Rücken. Die Verletzungen wurden im Stadtspital Triemli dokumentiert. Eine Zeit lang konnte Frau Studer nicht mehr Auto fahren, jedes Mal, wenn sie ein Polizeiauto sah, bekam sie Herzrasen. Noch heute plagen sie Albträume. Auch ihr Ehemann hat das Erlebte noch nicht verarbeitet. «Ich habe als Psychiater seit den achtziger Jahren viele Flüchtlinge behandelt. Ich bin erschüttert, weil ich nicht geglaubt habe, dass in der Schweiz so etwas möglich ist.» Rosangela Studer: «Ich glaube, der eine Polizist hatte sich nicht unter Kontrolle, als er meinen Mann mit dem Pfefferspray angriff. Er rief Verstärkung, um uns wirklich gefährlich aussehen zu lassen und mit diesem Grossaufgebot seine übertriebene Handlung zu kaschieren.»

Was die Polizei sagt

So erzählen Studers die Geschichte. Die Polizisten widersprechen, im Rapport und auch bei der Einvernahme durch die Staatsanwältin. Herr Studer sei nicht halb nackt gewesen, als er die Tür geöffnet habe, er habe mehrmals die Faust gegen sie erhoben, «als ob er zuschlagen wolle», Polizist F. habe jeden Moment einen Schlag von ihm erwartet. Es habe ein Gerangel zwischen Polizist S. und den beiden Frauen gegeben. Polizist F. habe Studer den Rücken zugedreht, um seinem Kollegen S. zu Hilfe zu eilen. Da sei Ruedi Studer mit gestreckten Armen auf sie zugestürmt, weshalb S. den «Pfefferspray einsetzen musste». Studer sei daraufhin «zielstrebig und schnurstracks» in die Wohnung zurückgerannt. Die Polizisten vermuteten, er hole eine Waffe, gingen vors Haus und sperrten Betty D. ins Auto, um sie vor dem angeblich aggressiven und möglicherweise bewaffneten Studer zu schützen.

Als Verstärkung eintraf, hätten sich Studers geweigert, sich auszuweisen. Frau Studer habe pausenlos geschrien und wild herumgefuchtelt und dabei mehrmals die Brust von Zivilpolizist K.* mit der flachen Hand getroffen, sodass sie «zu Boden gebracht werden musste» und «Handschellen und Fussfesseln angelegt werden mussten». Sie habe sogar zu beissen versucht. «Ich bin schon seit dreizehn Jahren Polizist. Aber noch nie habe ich eine so uneinsichtige Person getroffen», sagte Polizist K. bei der Einvernahme. Er habe sich aber nie bedroht gefühlt. Er und seine Kollegen sagen übereinstimmend, es sei kein regulärer Einsatz gewesen, sie würden heute aber alles genau gleich machen.

Am gestrigen Gerichtsprozess fragte der Anwalt der Studers, Bernard Rambert, in seinem Plädoyer: «Wie kommen zwei Polizisten auf die Idee, nachts um 2.15 Uhr bei unbescholtenen Bürgern, die im Tiefschlaf sind, Sturm zu läuten und gleich zu Beginn Einlass zu begehren, um dann erstaunt feststellen zu müssen, dass die Betroffenen höchst unwirsch und gereizt reagieren?» Es gebe eine sogenannte Nachtzeitschranke, nach der nachts auch keine Hausdurchsuchungen durchgeführt werden dürfen, ausser in Fällen höchster Gefahr. Hat ein 72-jähriger, schlaftrunkener Mann die Polizisten «derart in Angst und Schrecken versetzt, dass sie ihm aus nächster Nähe eine Pfeffersprayladung ins Gesicht jagen, weil er ihnen mit der Faust und ausgestreckten Armen gedroht haben soll?», fragt Rambert weiter. Selbst wenn Ruedi Studer seine Faust erhoben haben sollte, was er bestreitet – ist das schon Gewalt und Drohung gegen Beamte? Sollten Polizisten nicht im Umgang mit Widerborstigen geschult sein und wissen, wie man aufgebrachte Menschen beruhigt, ohne sie niederzupfeffern? Welche Amtshandlung wurde behindert, wenn Betty D. doch offensichtlich bereits verhaftet war, als sie vor der Tür der Studers stand? Warum legten die Beamten Betty D. Handschellen an, wo sie doch «zu jeder Zeit kooperativ war», wie alle Polizisten übereinstimmend aussagten? Wieso drehte Polizist F. Ruedi Studer den Rücken zu, wenn er doch erwartete, jeden Moment eine Faust von diesem zu kassieren? Wieso konnte Studer, nachdem ihm Pfefferspray in die Augen gesprüht worden war, noch zurück in die Wohnung rennen, dort sein Handy holen, wieder nach draussen gehen, um alles zu filmen, bevor die Wirkung des Pfeffersprays einsetzte? Welchen Nutzen hat also der Pfefferspray als Waffe, wenn er nicht sofort wirkt? Und wenn eine aufgebrachte Person die Brust eines Polizisten mit der flachen Hand trifft, ist das Grund genug, von drei Polizisten «zu Boden gebracht» und an Füssen und Händen gefesselt zu werden?

Auch der Richter war der Version der Polizisten gegenüber sehr skeptisch. Er sprach Studers von sämtlichen Vorwürfen frei und gestand ihnen eine Genugtuung von insgesamt 2800 Franken zu. Die Strafanzeige gegen die Polizisten ist noch hängig.

* Alle Namen sind der Redaktion bekannt.