Suizidversuch: Ein Betroffener erzählt: Der Siebzehnjährige sah keinen Ausweg mehr
Suizidversuche sind unter abgewiesenen Asylsuchenden keine Seltenheit. Vor zweieinhalb Jahren ist auch Jonathan Tilahun aus einem Fenster gesprungen. Er macht das Schweizer Asylsystem dafür mitverantwortlich.
«Können Sie ein Vollbad nehmen?» Jonathan Tilahun* hatte angekreuzt: «Unmöglich.» – «Können Sie das Fleisch mit dem Messer schneiden?» Unmöglich. – «Können Sie einen zwei Kilogramm schweren Gegenstand über Kopfhöhe heben?» Unmöglich.
So steht es in Jonathan Tilahuns Protokoll aus der Rehaklinik. Noch einiges mehr ist für Tilahun unmöglich – das meiste hat aber nichts mit seiner körperlichen Verfassung zu tun.
Jonathan Tilahun lebt bis heute ohne Aufenthaltsbewilligung in einer Zürcher Notunterkunft. In die Reha kam der heute knapp zwanzigjährige Eritreer, nachdem er vor zweieinhalb Jahren im zürcherischen Weisslingen aus dem Fenster im dritten Stock eines Hauses gesprungen war – in jenem Dörfchen, das Jahre davor Schlagzeilen gemacht hatte, weil hier ein Flüchtender beim Landeanflug eines Flugzeugs aus dem Fahrwerk gefallen war.
Ein leeres Versprechen
Niemand berichtete über Jonathan Tilahuns Suizidversuch. Aber jetzt möchte er darüber sprechen. Sein Antrieb ist nicht psychohygienisch bedingt, sondern die Anklage gegenüber dem Schweizer Asylwesen. «Das System macht krank», sagt er.
Tilahun war siebzehn Jahre alt, sein Asylantrag war gerade abgelehnt worden. Er sah keinen anderen Ausweg mehr. Er sprang. Aufprall auf den Asphalt. Beide Beine und seine rechte Hand waren gebrochen.
Bis heute leidet er an chronischen Schmerzen, die vom Gelenk seiner Hand in den Arm ausstrahlen und bei Hitze höllisch werden. Tilahun sagt, er würde die Zeit zurückdrehen, wenn er könnte. Auch heute quälen ihn manchmal schlechte Gedanken, aber sich nochmals etwas antun? Niemals. Obwohl sich seine Situation nicht geändert hat: «Ich habe keinen Ort gefunden, an dem ich mein Leben leben kann.»
5000 Kilometer ist Tilahun gereist, um einen solchen Ort zu finden. «Die Soldaten in Eritrea wollten mich einziehen, aber ich habe mich versteckt.» Sein Vater und seine Brüder seien damals bereits im Nationaldienst, der Open-End-Zwangsarbeit in Eritrea, gewesen. Seine Mutter habe man eingekerkert, um Druck auf ihn auszuüben. Jonathan Tilahun stellte sich nicht, aber die Leute vom Nationaldienst fanden ihn trotzdem. Er sei gefoltert worden und geflohen, sobald er wieder freigekommen sei. Ganz allein, minderjährig. Er sei durch die Sahara nach Europa gekommen. Die schlimmste Situation habe er in Libyen erlebt.
In der Schweiz musste er zwei Jahre auf seinen Bescheid warten. Während dieser Zeit tauchte Tilahun unter und stellte in Deutschland einen Antrag. Dort aber: Dublin-Ausschaffung – und wieder zurück in die Schweiz. «Die Deutschen haben mir versprochen, dass die Schweiz mich aufnimmt.» Das Versprechen war ein leeres: Tilahuns Antrag wurde abgelehnt.
Seine Schwester verfügte bereits über eine B-Bewilligung, als Tilahun die Schweiz erreichte. Beide teilen dieselbe Geschichte. Wie soll da Tilahun verstehen, dass sie geschützt und er vom selben System ausgespuckt wird?
In die Rechtlosigkeit getrieben
Die Asylpraxis gegenüber EritreerInnen hat sich in den letzten Jahren mehrmals verschärft. Seit Mitte Juli dürfen jetzt gemäss einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts auch jene hierher Geflüchteten ausgeschafft werden, denen in Eritrea die Wiedereinziehung in den Nationaldienst droht. Und das, obwohl Eritrea gar keine Rückführungen akzeptiert. Also treiben die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts die Betroffenen in die Nothilfe – und damit in die Rechtlosigkeit. Sie sind eine Wette auf die freiwillige Rückkehr, auf die Resignation.
Nothilfe im Kanton Zürich bedeutet: keinerlei Beschäftigung, sechs Leute pro Zimmer, kein Rückzugsort. Und ein kümmerliches Überlebensgeld von acht Franken pro Tag, das Tilahun ganz gestrichen wird, wenn er es einmal fünf Minuten zu spät abholen will. Dafür ist Jonathan Tilahun 5000 Kilometer weit geflüchtet.
«Obwohl ich hier die Sonne sehen kann, ist die Schweiz ein Gefängnis für mich. Das ist die Realität meines Lebens, und natürlich stehe ich mit meinem Namen dazu», sagt Tilahun beim Gespräch auf einem Aussichtspunkt im Zürcher Hinterland. Er lässt sich auch bereitwillig fotografieren, wobei er seine Hände verschränkt, als wären sie in Ketten – das verbreitete Protestsymbol gegen das eritreische Regime.
Dass die WOZ sein Gesicht auf dem Foto trotzdem verdeckt und Jonathan Tilahun nicht sein richtiger Name ist, hat gute Gründe: Einerseits bleibt er weiterhin der Willkür im Zwangslebensmodell «Notunterkunft» ausgesetzt. Andererseits gibt es eine minimale Hoffnung: Tilahuns Verfahren konnte dank neuer Beweise wieder aufgerollt werden. Erhält er eine Aufenthaltsbewilligung, kann er vielleicht auch bald das ersehnte Vollbad nehmen.
* Name geändert.