Ein Traum der Welt: Hinkünftige Sprache

Nr. 35 –

Annette Hug täuscht sich über die Herkunft von Buchstaben

Abkürzungen können in die Irre führen, gerade im mehrsprachigen Alltag. Nächsten Februar werde ich am Konfuzius-Institut in Basel meine erste Chinesischprüfung ablegen. Auf den Testblättern, Formularen und Kursunterlagen begegnet mir ständig das Kürzel HSK. Ich dachte, das heisst «Heimatliche Sprache und Kultur», jedenfalls in der Schweiz. So nennen die Volksschulen Kurse für Kinder aus eingewanderten Familien. Früher sollten Arbeiterkinder mit schönem Italienisch auf eine Rückkehr in die Heimat vorbereitet werden. Heute gibt es Kurse in etwa 28 Sprachen, meist in Randstunden, wenn sich das Schulhaus geleert hat. Die LehrerInnen sind von Vereinen oder Botschaften auf der Basis eines Stundenlohns angestellt. Dass das ins Auge gehen kann, wurde in den Krisen ab 2010 deutlich. Weil die Bezüge der spanischen und portugiesischen LehrerInnen in Euro berechnet werden, crashten ihre Löhne. Auch deshalb fordert die Interessengemeinschaft Erstsprachen (IGE) eine Integration der Kurse in die Volksschule – mit entsprechenden Anstellungsbedingungen und Auflagen für die Lehrkräfte. Die Gewerkschaft VPOD und zahlreiche BildungsforscherInnen unterstützen die Forderung.

Therese Salzmann von der IGE schrieb diesen Frühling in einem Leserinnenbrief an die NZZ, eine Integration der HSK-Kurse würde auch «unerwünschte Propaganda» verhindern. Ein Theaterstück zur Schlacht von Gallipoli, das im HSK-Unterricht eingeübt worden war, machte gerade Schlagzeilen. «Erdogan lässt Schweizer Schüler Krieg spielen», titelte der «Blick». Und prompt kündigte Präsident Recep Tayyip Erdogan an, in der Schweiz unabhängige türkische Schulen fördern zu wollen. Mit dem Begriff «Heimat» hat er weniger Probleme als die Lehrkräfte, die sich in der genannten IG organisieren. Sie sprechen von «Herkunftssprache und -kultur». Was mich an eine philippinisch-amerikanische Bekannte denken lässt. Sie erzählte an einer Party auf Deutsch von ihrer Herkunft und Hinkunft. Herkunft seien die USA, wo sie aufgewachsen ist, Hinkunft aber ein Dorf in Zentralamerika, wo sie nach dem Wirbelsturm Mitch beim Wiederaufbau half. «Hinkünftige Sprache und Kultur» wäre auch ein schönes Schulfach.

Aber wo ist Heimat? Einen kurzen Moment lang dachte ich, das Konfuzius-Institut in Basel biete mir eine «heimatliche Sprache» an, da habe ich mich getäuscht. Für die anerkannten Kinderkurse am Rand der Volksschule wird auf eine private Organisation verwiesen. Und die Ausländerpolitik Chinas ist sehr restriktiv. Die Regierung Xi Jinping denkt nicht daran, das Land als neue Heimat für Fremde anzupreisen. HSK heisst ganz einfach «hanyu shuiping kaoshi», 汉语水平考试, also: Standardprüfung der chinesischen Sprache. Auf der ganzen Welt lernen Leute mit denselben Kursbüchern und demselben Audioguide. Eine melancholische männliche Stimme übersetzt uns die Beispielsätze: «What is the color of Xiao Wang’s cup?» Dabei entsteht ein seltsam globales Gefühl. Vielleicht erinnert diese Stimme auch SchülerInnen in Nairobi und Stockholm an den Bordcomputer Hal aus «2001: A Space Odyssey» – an seinen immer gleichen Rhythmus und seine Geduld. Als ob uns ein Raumschiff in die Heimat flöge, die HSK verspricht. Hal fragt nach dem Passwort, bevor er uns einlässt: «Welche Farbe hat die Tasse des kleinen Wang?»

Annette Hug ist Autorin in Zürich. Nach den Sommerferien muss auch sie wieder zur Schule. Und sie bereitet eine Reise vor.