Tourismus in den Alpen: Der Berg, keine Sehnsucht

Nr. 35 –

«Rollercoaster», Hängebrücke, Gletscherflüge, Schlittenhunde: Auf dem «Glacier 3000» zwischen Gstaad und Les Diablerets erfährt man, was geschieht, wenn der Alpenraum in einen Vergnügungspark verwandelt wird.

  • Impressionen von «Glacier 3000»

Vom Gletscherrestaurant blickt man auf eine weite, von der Gletscherzunge zerfurchte Hochebene. In der Ferne balanciert ein riesiger Felsbrocken auf dem steinigen Untergrund. Am Horizont türmen sich die Riesen der Walliser Alpen.

Eine Szenerie wie gemalt. Eine Seilbahn transportiert Menschen durchs Bild – im Schneckentempo. Fast schon lethargisch langsam fahren auch die Wagen der Rodelbahn den Berg hoch, um die Menschen am Startpunkt des Vergnügens wieder auszuspucken. Das Surren der Bahnen dringt nicht durch die Fenster. Die Geräuschlosigkeit dieser Szenerie verleiht ihr etwas Surreales, die wie in Zeitlupe aneinander vorbeitreibenden Menschen wirken wie StatistInnen.

Der Ansturm hält sich an diesem Sommertag in Grenzen: Für den Abend sind auf dem Gletscher Gewitter angekündigt, ein gutes Dutzend Feriencars hat dennoch BesucherInnen abgeladen. Arabische Frauen in eleganten Mänteln, eine Gruppe Grossstadtmenschen aus Indien, die Männer tragen hippe Bärte und exzentrische Turbane. ChinesInnen in roten Trainingsanzügen, eine jüdisch-orthodoxe Familie aus Israel.

Sie alle sind dem Ruf von Bernhard Tschannen gefolgt. Der CEO des Unternehmens Glacier 3000 hat so seine Schwierigkeiten: Sein Gletschergebiet läuft in der Wintersaison nur gut, wenn wenig Schnee fällt und die WintersportlerInnen auf den Gletscher ausweichen. Tschannen hat damit das umgekehrte Problem der Skigebiete in tieferen Lagen, die wegen des klimawandelbedingten Schneemangels Gäste verlieren. Das Resultat bleibt dasselbe: Unvorhersehbarkeit, der das Unternehmen mit immer wieder neuen Sommerattraktionen begegnet.

Geld dafür ist vorhanden: 2005 stiegen die superreichen Geldgeber Marcel Bach, Bernie Ecclestone und Jean-Claude Mimram ins Gletschergeschäft ein. 2007 folgt die Eröffnung des «Alpine Coaster» (die aktuell höchste Rodelbahn der Welt), 2014 jene des «Peak Walk by Tissot» (die erste Hängebrücke der Welt, die zwei Berggipfel miteinander verbindet). Dazu im Angebot: Exkursionen mit Schlittenhunden, Helikoptergletscherflüge, Gletscherausflüge mit dem «Snow Bus» und ganzjähriger Schlittelspass. «Ein einfaches Bergerlebnis» nennt Tschannen das. Sein Produkt findet Anklang. Seit der CEO vor elf Jahren übernommen hat, hat sich das Unternehmen im Bereich Gruppenreisen um das Fünfzehnfache gesteigert. Vier Agenten sind für ihn in Thailand, China, Indien und Südkorea im Einsatz. Tschannen hat ein klares Ziel: Er will die Region – hinter den Ausflugsorten um Luzern und Interlaken – zur drittgrössten Topdestination des Schweizer Tourismus machen.

Immer höher hinauf

Am Anfang war der Aussichtsturm im Flachland: Bis in die achtziger Jahre gehörte der Berg zumindest im Sommer jenen, die ihn sich mit eigener Muskelkraft verdienten. Der Gipfel war Sehnsuchtsort, den man aus der Ferne betrachtete. Eine Erhebung der Alpenschutzorganisation Mountain Wilderness zeigt, wie sehr seither der erlebnisorientierte Tourismus in den Schweizer Alpen explodiert ist. Klettersteige, Sommerrodelbahnen, Hängebrücken, Seilparks, Actionspielplätze: Die Vergnügungsangebote wurden nicht nur immer extravaganter, sie eroberten über die Jahrzehnte auch immer höhere Sphären: Heute gibt es in den Schweizer Alpen rund 200 solcher «Funparks», die sich seit der Jahrtausendwende auch auf über 2000 Metern Höhe ausbreiten. Die vorläufige Spitze erreichte der Trend zwischen 2011 und 2015. Dass er seither leicht abflaut, werten manche TourismusforscherInnen als erste Sättigung des Marktes. Doch die vier grössten Schweizer Bergbahnen vermelden in diesem Hitzesommer nicht nur Rekordzahlen, sondern auch weitere Ausbaupläne.

Der «Glacier 3000» tropft im Hitzesommer vor sich hin, eine Gruppe AlpinistInnen kehrt mit Wanderstöcken und Schneeschuhen von einer Expedition zurück. Die BerggängerInnen passieren einen mickrigen Schneehang, den TouristInnen hochkraxeln, um auf kleinen runden Tellern wieder herunterzusausen. Wie ein wilder Ritt auf einem Pferd sieht das bei einem jungen, übermütigen Typen aus, dessen Familie ihm belustigt zuschaut, bevor alle zur Sesselbahn trotten, die sie zurück zum Ausflugsrestaurant bringt. Die Stimmung ist gut, die Selfiesticks sind in ständigem Einsatz. Die Skurrilität dieses Gipfelfreizeitparks scheint die BesucherInnen überhaupt nicht zu stören.

Die Erlebnisschraube dreht sich weiter

Werner Bätzing, Leiter des Archivs für integrative Alpenforschung, hat eine klare Haltung zu dieser Entwicklung: Der Aufrüstungswettbewerb der grossen Bergbahnen könne nicht endlos so weitergehen, ist er überzeugt. «Der ganze Firlefanz muss ständig nachgerüstet werden, aber irgendwann lassen sich die Pseudoattraktionen nicht mehr steigern, und das Ganze endet in einem Erlebnis-Burn-out, der totalen Langeweile.» Noch aber dreht sich die Investitionsspirale: Bloss einige kleine und mittlere Skigebiete begegnen dem Klimawandel mit nachhaltigeren Tourismuskonzepten. Die grossen drehen weiter an der Erlebnisschraube. Die Gäste werden ihnen nicht so schnell ausgehen.