Die Rigi: Ein Berg wird Fastfood

Nr. 38 –

Immer mehr TouristInnen lassen sich auf den Innerschweizer Aussichtsberg transportieren. Besonders Gruppenreisen nehmen stark zu. Das sorgt für Stress, Marketingprosa und rote Köpfe.

Rauf, Verpflegung, runter: Viele Gruppen bleiben nur eine Stunde auf der Rigi, und schon gehts weiter zum nächsten Programmpunkt. Karte: Rigi Bahnen AG; Foto: WOZ

Schon die Anreise verspricht Gedränge. Das Dampfschiff ab Luzern und die Zahnradbahn ab Vitznau sind heillos überfüllt. Bei der Endstation auf Rigi Kulm spuckt die Bahn Hunderte von TouristInnen aus. Viele ältere SchweizerInnen sind da, Gruppen aus Asien und Familien mit Kinderwagen. Das Spätsommerwetter ist prächtig, das Panorama atemberaubend. Im Norden liegt das Mittelland, im Süden die Alpenkette.

Stein vom heiligen Berg

Besonders hektisch ist das Gewusel auf dem höchsten Punkt gleich neben dem Sendeturm der Swisscom. Hier steht ein acht Tonnen schwerer Basaltstein mit chinesischen Schriftzeichen, das Resultat eines Steintauschs mit China: Die Rigi-Bahnen lieferten Nagelfluh auf den heiligen Berg Emei in der Provinz Sichuan, im Gegenzug karrten sie 2015 den Basalt auf die Rigi. Da posieren nun chinesische Gruppen und knipsen, was die Handys hergeben.

Den Rigi-Bahnen geht es prächtig. Eine zunehmende Anzahl Gäste fahren mit den Zahnradbahnen ab Vitznau und Arth-Goldau sowie mit der Luftseilbahn ab Weggis auf den Berg. Im letzten Jahr waren es 850 000, so viele wie noch nie. «Auf Rigi Kulm wird es unangenehm», sagt der Kunsthistoriker und frühere Museumsdirektor Heinz Horat. Er wohnt in Weggis und wandert jede Woche auf die Rigi. «Der Berg zieht seit 200 Jahren Ausflügler aus dem In- und Ausland an. Doch jetzt haben wir eine Situation erreicht, bei der niemandem mehr wohl ist.»

Der Stein aus China ist ein Symbol für die jüngste Entwicklung. Seit einigen Jahren ist es erklärtes Ziel der Rigi-Bahnen, die Zahl der asiatischen Gäste zu erhöhen. Dafür beschäftigen sie mit Erfolg eigene AgentInnen in China und Südkorea. Die zusätzlichen Gruppen verändern den Gästemix. 2014 lag der Anteil von SchweizerInnen bei achtzig Prozent, im laufenden Jahr beträgt er bisher noch sechzig Prozent.

Wem gehört die Rigi?

Unterhalb des Gipfels steht das Hotel Rigi Kulm. Auch hier spürt man den Anstieg der AusflüglerInnen. Hotelière Renate Käppeli sitzt im Speisesaal mit Parkettböden, opulentem Spiegel und einem Teeservice hinter Glas, das einst Bayernkönig Ludwig II. als Präsent mitbrachte. «Wir versuchen einen Spagat: gepflegte Gastronomie und kulturelle Angebote für unsere Individual- und Seminargäste und nebenan ein Selbstbedienungsrestaurant für die Tagesgäste und die Gruppen.» Der Spagat gelinge aber immer weniger. «Gruppen drängeln, der Druck und die Hektik sind enorm gestiegen, alles muss schnell gehen.»

Der Stress ist leicht zu erklären. Viele Gruppen bleiben nur eine Stunde auf der Rigi, und schon gehts weiter zum nächsten Programmpunkt. Dieses Zeitkorsett sorgt für Friktionen. Die Reiseunternehmen haben für die Pauschalgruppen Wagen reserviert, andere AusflüglerInnen müssen warten. In Leserbriefen beklagen sich Einheimische, der Berg werde ihnen von «den Asiaten» weggenommen.

«Wem gehört die Rigi?», fragt Renate Käppeli rhetorisch. «Wir dürfen uns nicht anmassen, dass sie uns Menschen gehört. Das ist eine ethisch-philosophische Frage, für die es ein Empfinden braucht. Da muss man achtsam sein und nicht den Umsatz als Mass aller Dinge ansehen.»

Käppeli zielt mit ihrer Aussage auf die Rigi-Bahnen. Jahrzehntelang waren sie ein gemütliches Bahnunternehmen mit über 5000 Klein- und KleinstaktionärInnen, die sich mit Tageskarten als Dividende zufriedengaben. Doch nun verfolgen die Rigi-Bahnen einen Strategiewechsel: Sie wollen zum Tourismusunternehmen werden.

Für die Umsetzung holten sie vor zwei Jahren Stefan Otz als neuen CEO an Bord. Otz war zuvor Tourismusdirektor in Interlaken, das er unter anderem dank arabischer Gäste unter die Top fünf der Sommerdestinationen im ganzen Alpenraum hievte. Er sitzt im Sitzungszimmer der Verwaltung in Vitznau und erklärt seine Strategie: «Nur hochfahren, runterschauen und die Aussicht geniessen – das reicht heute einfach nicht mehr. Wir müssen neu in Shops mit regionalen Produkten und in die Gastronomie investieren, damit wir die Wertschöpfungskette auf dem Berg stärken können.»

Das Unternehmen mit rund 130 Vollzeitstellen steht unter Druck. Es muss in den nächsten Jahren bei den Zahnradbahnen veraltete Züge ersetzen und die Luftseilbahn von Weggis nach Kaltbad erneuern. Es geht um Ersatzinvestitionen von bis zu siebzig Millionen Franken.

Das dereinst investierte Kapital soll mithilfe eines Masterplans für die «nachhaltige Positionierung des Erlebnisraumes Rigi» wieder eingespielt werden. Der Plan zählt über 300 Seiten und ist vollgestopft mit Marketingprosa über die «Neuinszenierung von Gästeerlebnissen».

Im Fokus stehen die GruppentouristInnen. CEO Stefan Otz erklärt das so: «Bei schlechtem Wetter bleiben die Schweizer Gäste zu Hause. Die Gruppen hingegen kommen auch bei Regen oder Nebel, weil sie ihre Reise lange im Voraus gebucht haben. Auch ihnen müssen wir mehr bieten.» Denn das Wachstum finde aktuell bei den internationalen Gästen statt.

«Nein zu Rigi-Disney-World»

Doch die Rigi-Bahnen rechneten nicht mit René Stettler. Der Kulturwissenschaftler lebt seit ein paar Jahren in einem Chalet auf Rigi Kaltbad. Als er den Masterplan und die dazugehörigen Visualisierungen sah, traute er seinen Augen nicht. Die Rigi-Bahnen entwarfen unter anderem ein «Schwizer Bergdörfli», eine Erlebnisalp, diverse Shoppingerlebnisse, Abenteuerspielplätze und im begehbaren Swisscom-Sendeturm ein neues «Gipfelerlebnis» mit Bildschirmen. Die Screens sollen mit Sonnenauf- oder -untergang bespielt werden, falls mal Nebel die Aussicht verdecken sollte. «Das ist der definitive Ausverkauf der Rigi an den Massentourismus», sagt René Stettler.

Stettler lancierte im letzten Oktober die Petition «Nein zu Rigi-Disney-World». Der Erfolg war überwältigend. Über 3000 Personen, darunter viele PolitikerInnen, unterschrieben. Unterschrieben hat auch der Kulturgeograf und Alpenforscher Werner Bätzing (siehe WOZ Nr. 35/2018 ). «Die zusätzlichen Inszenierungen sind ein Gag für asiatische Touristen, die den Berg zum Rummelplatz machen», sagt er zu den Plänen. Viel interessanter sei für BesucherInnen jedoch die spezielle Natur-, Kultur- und Tourismusgeschichte der Rigi. «Diese Geschichte ist bereits aufgearbeitet», fügt der Kunsthistoriker Heinz Horat bei. «Es gibt eine Fülle von Materialien wie zum Beispiel alte Gästebücher. Mit schlauen Konzepten kann man spannende Geschichten erzählen.»

Die Rigi-Bahnen wurden vom Widerstand überrumpelt. Inzwischen haben sie sich mit den KritikerInnen an einen runden Tisch gesetzt und eine «Charta Rigi 2030» entwickelt, die noch diesen Monat veröffentlicht wird. Sie will das ökologische und kulturelle Erbe schützen und eine moderate wirtschaftliche Entwicklung sicherstellen. Doch niemand weiss, was die Charta taugt. Es fehlt etwa eine Obergrenze von 800 000 Gästen pro Jahr, wie sie die PetitionärInnen ursprünglich gefordert hatten.

«Mit dem Masterplan wurden wir missverstanden», sagt CEO Stefan Otz. «Es ging hier nur um Visionen. Wir wollten auch nie den ganzen Berg mit Touristen fluten.» Zuoberst auf der Wunschliste stehen heute ein neuer Bahnhof mit Restaurant und Souvenirshop auf Rigi Kulm. Folgen sollen das «Gipfelerlebnis» im Sendeturm und ein neuer Rundweg. «Andere Ideen sind zurückgestellt, aber nicht versenkt.»

Damit sind die Diskussionen nicht vom Tisch. Denn mit den neuen Zügen für die Zahnradbahnen kann das Unternehmen schneller fahren und bei Bedarf mehr Personen befördern. Auch beim Ersatz der Luftseilbahn von Weggis nach Kaltbad setzen die Rigi-Bahnen auf Ausbau. Anstelle der bisherigen Pendelbahn mit zwei grossen Kabinen planen sie eine neue Gondelbahn. Künftig sollen rund eine Million Fahrgäste pro Jahr befördert werden.

Das lehnt der Landschaftsschutzverband Vierwaldstättersee (LSVV) ab. «Wesentlich höhere Transportkapazitäten belasten nicht nur die Rigi zusätzlich, sondern auch das gesamte Verkehrssystem im Tal», sagt LSVV-Präsident Urs Steiger. Zudem sei offensichtlich, dass für den Bau von siebzehn zusätzlichen Gondelbahnmasten Wald gerodet werden müsse. Eine Landschaft von nationaler Bedeutung werde beeinträchtigt. Auch der Innerschweizer Heimatschutz geht auf Distanz: «Wir stehen der Gondelbahn kritisch gegenüber», sagt Rainer Heublein, Präsident der Kantonalsektion Luzern.

Auf Rigi Kulm freut sich derweil Hotelière Renate Käppeli, wenn der Uhrzeiger auf 19 Uhr vorrückt. Dann fährt die letzte Bahn ins Tal – und der Gipfel verwandelt sich schlagartig. «Die Natur zeigt sich in ihrem besonderen Glanz und in ihrer ganzen Schönheit. Man kann magische und einzigartige Momente erleben, und es herrscht fast vollständige Stille.»