Sicherheit in Schweden: Schlagstockpolitik im Problembezirk

Nr. 36 –

Rechtsfreie Zonen in migrantisch geprägten Quartieren von Malmö? Gräuelpropaganda, die den Rechtspopulisten bei den anstehenden Wahlen helfen wird. Tatsächlich aber nehmen die Gewalttaten mit Schusswaffen zu. Die Gründe sind vielfältig. Auch die soziale Ausgrenzung spielt eine Rolle.

«Es war im Frühling, und plötzlich hörten wir Schüsse, dort drüben beim Friseur», erzählt der zwanzigjährige Ali A.*, zieht an seiner Zigarette und denkt zurück: «Der Typ, den die kriegen wollten, liess sich gerade die Haare schneiden. Er wurde angeschossen, überlebte aber.» Abgespielt hat sich diese Szene in Holma, einem Hochhausbezirk am Stadtrand des südschwedischen Malmö. A. ist hier aufgewachsen. Am heutigen Sonntagnachmittag ist die Stimmung entspannt. Doch die Schiesserei war kein Einzelfall. Seit Jahresbeginn sind in der Stadt mit ihren 300 000 EinwohnerInnen elf Menschen erschossen worden. Die Opfer sind gewöhnlich polizeibekannte junge Männer aus «Problembezirken» wie Holma.

Wie die meisten dieser Gebiete ist auch Holma migrantisch geprägt. Ein gefundenes Fressen für RechtspopulistInnen. Deren Propaganda zufolge habe das Land, und besonders das multiethnische Malmö, in den letzten Jahren eine «wahnsinnige Eskalation der Gewalt» erlebt, es gebe «No-go-Zonen», die selbst für die Polizei zu gefährlich seien.

Gesunkene Mordrate

Für Leandro Schclarek Mulinari, der selber aus Malmö stammt und in Kriminologie an der Stockholmer Universität doktoriert, hat dieses Bild wenig mit der Wirklichkeit zu tun. «Die Vorstellung von Malmö als eine Art Inferno ist vollkommen undifferenziert.» Von einer allgemeinen Eskalation krimineller Gewalt könne keine Rede sein. «In den achtziger und neunziger Jahren betrug die Mordrate in Schweden etwa 1,4 pro 100 000 Einwohner, heute liegt sie bei etwa 1,1», sagt er. «Wir sehen allerdings starke lokale Fluktuationen, etwa dass innerhalb kurzer Zeiträume und in spezifischen Milieus – wie derzeit in Teilen Malmös – viel geschossen wird.» Darüber berichtet werde jedoch nur, wenn sich solche Vorkommnisse häuften, nicht, wenn sie dann wieder abnähmen.

Auch laut Sven Granath, der für die Stockholmer Polizei zum Thema forscht, ist nicht die Anzahl krimineller TäterInnen gestiegen, sondern deren Zugang zu Schusswaffen leichter geworden. «Durch den Schmuggelverkehr aus den ehemaligen Bürgerkriegsgebieten im Balkan, der über Malmö führt, hat sich hier in den letzten zwanzig Jahren ein Arsenal illegaler Waffen angesammelt.» Die vorhandenen Schusswaffen förderten Straftaten wie Erpressung und Drogenhandel, die dann zu weiteren Konflikten unter kriminellen Akteuren führten. Granath zufolge haben die Behörden diese Entwicklung verschlafen. «Man hat sich lange auf traditionelle Formen von Gewalt konzentriert und die Bekämpfung illegalen Waffenbesitzes vernachlässigt.» Inzwischen sei aber der Zoll aktiver geworden, und Verdacht auf einen Bruch der Waffengesetze führe seit Jahresanfang automatisch zu U-Haft. «Einen weiteren Anstieg dieser Art von Gewalt erwarte ich daher nicht.»

Auch wenn sich die Gewaltproblematik in Malmö also durch den Zugang zu Schusswaffen verstehen und sich möglicherweise auch eindämmen lässt, greift dies laut Schclarek Mulinari als Erklärung zu kurz. «Wir erleben, wie sich die Waffengewalt in bestimmten Gebieten konzentriert, nämlich den ärmsten. Das spiegelt eine wachsende Polarisierung in der Gesellschaft.»

Ungleiche Chancen

Seit dem Niedergang der Schwerindustrie Ende der achtziger Jahre setzte man in Malmö alles daran, eine «Stadt des Wissens» zu werden: Die einstige Arbeiterstadt bekam eine eigene Uni, in den ehemaligen Werftbezirken am Wasser entstanden teure Eigentumswohnungen. ArbeiterInnengegenden, wie Ali A.s Heimatbezirk Holma, offenbaren die Schattenseite dieser Wandlung. Sowohl die Jugendarbeitslosigkeit, die in Malmö mit etwa elf Prozent über dem Landesdurchschnitt liegt, als auch der Wohnungsmangel sind hier besonders ausgeprägt. «Man ist hier wie eingeschlossen», sagt er. «Ein Freund von mir sucht seit Monaten erfolglos Arbeit. Und dann kriegt er ein Angebot auf der Strasse: ‹Verdien dir während der Jobsuche doch mit Dealen was dazu.› So fängt es an, und dann bleibst du darin hängen.» Er kenne niemanden, der damit glücklich sei. «Klar, man will ein anderes Leben, einen richtigen Job und Lohn am Monatsende. Aber was tun, wenn man schon heute Geld braucht?»

Geschichten wie diese wiederholen sich für SozialarbeiterInnen wie Sigrun Sigurdsson. «Acht der von mir zeitweise betreuten Jugendlichen sind mittlerweile auf der Strasse ermordet worden», sagt Sigurdsson. «Alle diese Jungs sind in Malmö aufgewachsen, und ich weiss, dass man mit den richtigen Massnahmen jeden Einzelnen hätte retten können.» Die Stiftung, für die sie arbeitet, heisst Fryshuset und betreibt eine breite Palette an sozialen Projekten, von der Hilfe für alleinstehende Mütter bis zu AussteigerInnenprogrammen für Kriminelle. Sigurdsson selber hilft Jugendlichen beim Einstieg in den Arbeitsmarkt. «Wir als Gesellschaft müssen diesen Jungs mehr bieten können als die Kriminalität», sagt sie. «Da muss man so früh wie möglich anfangen. Schulkinder, die in beengten Verhältnissen aufwachsen, kriegen die Hausaufgaben nicht hin und verbringen stattdessen mehr Zeit auf den Strassen, wodurch die Eltern an Einfluss verlieren.» Doch die Politik denke viel zu kurzfristig und rede vor allem über mehr Kameras und Polizei.

Belastetes Verhältnis zur Polizei

Während des derzeitigen Wahlkampfs kommen tatsächlich immer wieder Forderungen nach härterem Durchgreifen, sogar nach dem Einsatz von Militär. Die aufgeheizte Stimmung wird bei den Parlamentswahlen vom Wochenende den rechtspopulistischen SchwedendemokratInnen wohl weiteren Auftrieb geben. Doch für Kriminologen wie Schclarek Mulinari ist klar: «Dass diese Schlagstockpolitik langfristig effektiv ist, lässt sich wissenschaftlich nicht belegen.» Stattdessen belaste sie das Verhältnis zwischen Polizei und Bevölkerung. Und das wiederum erschwere die notwendige Polizeiarbeit wie die Aufklärung von Mordfällen.

Schon jetzt zeigten Studien, dass Jugendliche in armen Stadtteilen Schwedens weitaus häufiger wegen Verdacht auf illegalen Drogenbesitz überprüft werden als ihre AltersgenossInnen in wohlhabenden Bezirken, obwohl dort statistisch mehr Drogen konsumiert werden. «Das ist eine selbsterfüllende Prophezeiung – wenn man Menschen ständig als Kriminelle behandelt, verhalten sie sich irgendwann entsprechend.»

Diese Dynamik kennt Ali A. nur allzu gut. «Du gehst in die Schule und machst alles richtig und rauchst am Wochenende mit den Freunden mal einen Joint. Plötzlich wirst du von einer Streife erwischt und bist dann vorbestraft. Da denkst du schnell, da kann ich genauso gut selber ins Geschäft einsteigen.» Das schwierige Verhältnis zur Polizei teilen hier viele. Ali A.: «Ich sag meinen Freunden immer, sie sollen sich von dem Mist fernhalten, aber mehr als reden kann ich nicht. Die Polizei dagegen scheint mehr darauf zu setzen, Leute fürs Grasrauchen zu bestrafen, als die Gewalt zu stoppen», ärgert er sich. Selber träumt A. davon, irgendwann mit mehr als nur Worten zur Lösung der Gewaltproblematik beitragen zu können. Wie genau, ist er sich aber nicht sicher. «Ich denke seit einiger Zeit darüber nach, selber Polizist zu werden», sagt er nachdenklich und lacht ein bisschen über sich selbst: «Dabei hasse ich die Polizei.»

* Name der Redaktion bekannt.