Linke Krise: Schluss mit der Schwärmerei!

Nr. 17 –

Während eine Weltwirtschaftskrise droht, steht die Internationale der linken Parteien so schwach da wie schon lange nicht mehr. Von der Sanders-Kampagne über Labour bis Podemos: War die Strategie der Massenmobilisierung falsch?

Aus den USA treffen bereits Bilder von Menschen ein, die zu Hunderten für Nahrungsmittel Schlange stehen, und auch die Prognosen für den Rest der Weltwirtschaft sind düster: Der Internationale Währungsfonds (IWF) warnt in einem vergangene Woche vorgestellten Bericht zur globalen Konjunkturentwicklung, dass sich infolge der Coronapandemie derzeit die heftigste Krise seit hundert Jahren zusammenbraue, weitaus gravierender noch als die Finanzkrise ab 2007.

Die Weltarbeitsorganisation (ILO) rechnet damit, dass die Einschränkungen wegen der Pandemie global fast 200 Millionen Jobs vernichten und drastische Einkommenseinbussen für weitere 1,25 Milliarden Menschen bedeuten könnten. Dies wird die ohnehin schon Armen am schwersten treffen, was weltweit neue Unruhen hervorbringen oder bestehende Konflikte verschärfen wird.

Der Wirtschaftsjournalist Andreas Kluth – gewiss niemand, der einen Umsturz herbeisehnen würde – prophezeite auf der Finanznachrichtenseite «Bloomberg» daher, dass die Pandemie «zu sozialen Revolutionen führen» werde; schliesslich war schon das Jahr 2019 von Frankreich über Libanon bis Hongkong von einer aussergewöhnlichen Häufung von Aufständen geprägt. Ausgerechnet den politischen Kräften allerdings, die hier besonders gefragt wären, ergeht es derzeit nicht anders als den Börsenindizes: Die Internationale der linken Parteien befindet sich im Sinkflug; vermutlich ist sie in der grössten Krise der vergangenen zehn Jahre.

Niederlage auf Niederlage

In den USA scheiterte eben erst der Sozialist Bernie Sanders erneut mit seiner Bewerbung um die Präsidentschaftskandidatur; eine weitere Chance wird es für ihn altershalber kaum geben. In Grossbritannien erlitt ein paar Tage früher schon der linke Labour-Flügel um Jeremy Corbyn eine Niederlage, als der Moderate Keir Starmer und nicht die Corbyn-Vertraute Rebecca Long-Bailey an die Parteispitze gewählt wurde. Und auch anderswo in Europa sieht es trostlos aus: Die deutsche Linkspartei liegt in Umfragen bei nicht einmal zehn Prozent, auch Jean-Luc Mélenchons La France Insoumise ist weit entfernt vom Popularitätshoch des Jahres 2017. In Griechenland wurde die Linkspartei Syriza 2019 abgewählt, in Spanien regiert zwar derzeit Podemos als Juniorpartner der SozialdemokratInnen, verlor aber bei der Wahl im November ebenfalls Mandate.

Diese Konstellation könnte sich als verheerend erweisen, wenn in den kommenden Monaten entschieden wird, wer die sich anbahnende Megakrise bezahlen wird. Die vorangegangene Finanzkrise hat gezeigt, dass diese Frage erbittert ausgefochten werden wird. Die Vermögenden werden alle Energien mobilisieren, ihren Anteil auf Kosten der Vielen möglichst gering zu halten. Tatsächlich ist die erneute Auseinandersetzung schon im vollen Gange, wie der Streit um die sogenannten Coronabonds in der EU zeigt: In diesem geht es ja genau darum, ob der reiche Norden Europas bereit ist, durch gemeinsam verbürgte Staatsanleihen dem ärmeren Süden in der Krise beizustehen.

Von den Plätzen in die Parteien

All dies wirft die Frage auf, ob die Linke in Europa und den USA gut beraten ist, den in den vergangenen Jahren eingeschlagenen Kurs weiterzuverfolgen, obgleich dieser die Kräfteverhältnisse zwischen oben und unten bislang kaum zu erschüttern vermochte. In der britischen und der US-Linken ist diese Debatte bereits angelaufen. So meldeten sich im US-Magazin «Jacobin» in den vergangenen Tagen Stimmen zu Wort, die davor warnten, aus Ernüchterung über die jüngsten Niederlagen vom eingeschlagenen Weg abzuweichen. «Socialists, stay in the Labour Party!», forderte etwa die britische Journalistin Dawn Foster. Der Publizist Paul Heideman ermahnte am selben Ort die US-GenossInnen, die Mobilisierung der Massen nicht aufzugeben und es sich nicht stattdessen wieder in subkulturellen Nischen und linksradikalem Aktionismus bequem zu machen: «Mass politics, not movementism, is the future of the left», schreibt er.

Damit verweist Heideman auf die Metamorphose, die der linke Widerstand nach der vergangenen Finanzkrise durchlebt hat. Dessen erste Phase war geprägt von einer spontanen Eruption der Wut gegen die Spardiktate infolge der Rettung des Finanzsektors: 2011, im «Jahr der gefährlichen Träume» (Slavoj Zizek), besetzten Empörte von New York über Madrid bis Athen öffentliche Plätze, um gegen eine Politik, die primär die Interessen des obersten «einen Prozents» der Gesellschaft vertrat, Widerspruch zu artikulieren. Diese Politik der Platzbesetzungen war allerdings auch nicht nur annähernd schlagkräftig genug, um an den herrschenden Verhältnissen zu rütteln.

Rückblickend waren die Bewegungen politisch wohl zu naiv, weil sie glaubten, gesellschaftlichen Wandel auch ohne langwierigen Kampf in und um die bestehenden Institutionen erzwingen zu können, allein durch eine ausreichende Mobilisierung der Unzufriedenen im Hier und Jetzt. Sinnlich erfahren liess sich dies etwa auf der Pariser Place de la République, als die dort versammelten AktivistInnen von Nuit debout sich daran machten, einfach einmal eine neue Verfassung zu schreiben.

In einer zweiten Phase gründeten sich daher entweder neue populistische Parteien (Podemos, La France Insoumise), oder Basisbewegungen versuchten, bestehende Mitte-links-Parteien zu kapern (Sanders, Corbyn). Den theoretischen Überbau dafür lieferte die Politphilosophin Chantal Mouffe, deren Arbeiten um den Nachweis kreisen, dass nur parteipolitisch organisierter Widerstand in der Lage sei, die neoliberale Hegemonie ins Wanken zu bringen: Anstatt sich also falschen Hoffnungen über die Möglichkeit eines unmittelbaren Bruchs mit dem Status quo hinzugeben, sollten Linke sich daran machen, Parteien und Bewegungen ins Leben zu rufen, die den Unmut der vielen Unzufriedenen bündeln und in die bestehenden Institutionen tragen. Mouffe zufolge sind hierfür populistische Methoden am besten geeignet, indem etwa rhetorisch der Gegensatz zwischen «Volk» und «Elite» beschworen wird und charismatische «Leader» inszeniert werden.

Die Massenfrage

In der Theorie mag das zumindest plausibel klingen, in der Praxis stellt sich aber spätestens heute die Frage, wie weit ein solcher Ansatz wirklich trägt. Der in Cambridge forschende Historiker Anton Jäger kam in einem schon vor dem Jahreswechsel ebenfalls im «Jacobin» veröffentlichten Abgesang auf den Linkspopulismus zum Schluss, dass dieser dem Irrglauben aufgesessen sei, es gebe heute überhaupt noch so etwas wie «Massen». Jäger schreibt: «Massen bewegen sich, sie marschieren, singen und kämpfen. Nichts davon existiert noch im Jahr 2019.» Stattdessen bildeten die vereinzelten Individuen von heute allenfalls noch sporadische «Schwärme», die sich zwar hie und da hinter schillernden Führungsfiguren versammeln liessen, sonst aber durch keinerlei soziale Bande zusammengehalten würden.

Diese Sichtweise mag sehr zugespitzt sein, und es ist nicht ausgemacht, dass sich die vielen Tausend, die sich bis eben noch für Sanders engagierten, plötzlich in alle Himmelsrichtungen zerstreuen werden. Dennoch müssen sich die Sanders- sowie die Corbyn-AnhängerInnen oder die StrategInnen in Spanien und Frankreich fragen, ob sie Politik nicht zu sehr auf das mehr oder weniger erfolgreiche Führen von Wahlkampagnen reduziert haben. Dem italienischen Philosophen Antonio Gramsci zufolge, auf den man sich ja heute links wie rechts gerne beruft, bräuchte es vielmehr eine Politik, die noch deutlich tiefer die Gesellschaft durchdringt, zivilgesellschaftliche Bastionen etwa im Bildungswesen oder kulturellen Bereich erobert und überall im konkreten Alltag solidarische Praktiken etabliert: in den Betrieben, Schulen oder im Quartier gleich vor der eigenen Haustür. Dann könnten aus den «Schwärmen» auch wieder mächtige Kollektive werden.

Viel Zeit dafür bleibt angesichts der heraufziehenden Krise nicht. Immerhin aber dürfte die Einmaligkeit des globalen Lockdown das Weltgefühl vieler derart erschüttert haben, dass zuvor Unvorstellbares plötzlich denkbar geworden ist. Dies belebt womöglich auch die politische Fantasie: Krisen können zu Katalysatoren des historischen Fortschritts werden – vorausgesetzt, man überlässt das Feld nicht einfach kampflos jenen, die das mit allen Mitteln verhindern wollen.