Paul Virilio (1932–2018): Die Beschleunigung zum Crash

Nr. 39 –

«Mit dem Schiff hat man den Schiffbruch erfunden.» So hat der am 10. September mit 86 Jahren in Paris verstorbene Urbanist Paul Virilio seine eigene Gedankenwelt bündig zusammengefasst. Wer daraus schliesst, dass Virilio ein Fortschrittsfeind war, täuscht sich. Der gläubige Katholik war weder nostalgisch noch moralisch veranlagt, sondern ein harter Realist mit blumiger Sprache. Die unaufhaltsame Beschleunigung der Welt und die daraus resultierenden Unfälle haben den einstigen Jaguar-Lenker zu gleichen Teilen fasziniert wie bestürzt. Eine Rückkehr in eine alte, langsamere Welt hielt er für ausgeschlossen.

Da er seine Dromologie, also die Wissenschaft von der Geschwindigkeit als verdichteter Zeit, als Feind des Raums und massgeblichem Gesellschaftsfaktor, bereits 1977 im Buch «Geschwindigkeit und Politik» begründete, kann man Virilio einen Propheten nennen. Die Welt war erst nach dem Golfkrieg Anfang der neunziger Jahre für seine Thesen bereit. Nach dem 11. September 2001 wurde er zum begehrten Interviewpartner. Kein Wunder: Mit der Dromologie lassen sich so unterschiedliche Ereignisse wie Terroranschläge, Finanzkrisen und Naturkatastrophen zusammendenken.

Virilios Theorien sind vom Krieg beeinflusst. Das hat auch biografische Gründe. Als Knabe erlebte er im Zweiten Weltkrieg die Bombardierung von Nantes und erhielt das traumatische Bild eines totalen Kriegs eingebrannt, wie er wiederholt erzählte. Eine seiner eher künstlerischen Arbeiten befasst sich mit den Atlantikwall-Bunkern der Wehrmacht. Jahrelang wanderte Virilio die französische Küste ab und fotografierte jeden einzeln. Wie der Medientheoretiker McKenzie Wark in seinem Nachruf aufschlüsselt, sind diese von den Alliierten schliesslich überrannten Bunker auch Sinnbilder für Virilios Blick auf die Architektur im Allgemeinen. Nicht nur sind sogar solide Bauten keineswegs bombensicher: Die Datenflüsse der modernen «Informationskriege» durchdringen die Mauern der Häuser noch viel müheloser. Eine neue Geopolitik müsste sich deshalb – ganz im Sinne Virilios – endgültig von alten Räumen und Grenzen verabschieden.