«Twin Peaks»: Die Rückeroberung

Nr. 36 –

Wie ein Scheinwerfer im dunklen Wald der Zeichen: Mit der dritten Staffel «Twin Peaks» hat David Lynch all seine Obsessionen zu einer Summe seines Werks gebündelt. Oder?

Wo, bitte, gehts hier zurück nach Twin Peaks? Agent Cooper (Kyle MacLachlan) sucht einen Ausgang aus dem Red Room. Foto: Suzanne Tenner / Showtime

Steht ein alter, bärtiger Wandersmann mitten im Wald und schaut panisch ins undurchdringliche Grün, das ihn umgibt. In der Not ruft er seinen Bruder im Great Northern Hotel an: «Ich glaube, ich bin high! Ich weiss nicht, wo ich bin!» Da gehts uns ganz ähnlich, der Wanderer Jerry spricht uns damit aus dem Herzen in der dritten Staffel von «Twin Peaks». Prägnanter könnte man es jedenfalls nicht formulieren, was es mit uns anstellt, wenn wir uns in den wuchernden Erzählschlaufen des David Lynch verlaufen: Du glaubst, du bist high. Und du weisst nicht, wo du bist.

Drei Episoden später sehen wir den alten Jerry noch einmal. Da steckt er noch tiefer im Gehölz fest, sein Telefon hat jetzt keinen Empfang mehr. Also schreit er seine Verzweiflung in den Wald hinaus: «Du kannst mir nichts vormachen! Hier war ich schon mal!» Die unsichtbare Autorität, die er hier anruft: Das kann eigentlich nur David Lynch sein, der Regisseur und Mastermind von «Twin Peaks». Und Jerry hat natürlich recht, aber er liegt trotzdem falsch. Lynch macht uns gar nichts vor: Klar waren wir hier schon mal, lang ists her, und diese dritte Staffel wirkt in vielem, als habe Lynch nochmals all seine Obsessionen und Lieblingsmotive zusammengewürfelt und zur Summe seines Werks gebündelt. In mancherlei Hinsicht ist das also ein grosses, ausuferndes Déjà-vu. Und doch ist vieles ganz anders als damals.

Leinwand, wo bist du?

Wir hatten kein Internet, aber wir hatten «Twin Peaks»: Damals, als sich die Welt noch weitgehend analog präsentierte, war ein Stapel VHS-Kassetten mit den beiden ersten Staffeln von David Lynchs TV-Serie ein kostbarer Schatz, mit dem man viel Eindruck schinden konnte. Das war vor 25 Jahren, und Lynch hatte mit Filmen wie «Eraserhead» (1977) und «Blue Velvet» (1986) schon quasi sein eigenes Kinogenre begründet: den bodenlos verschlauften Psychotrip zwischen Suburbia und obszönem Unbewusstem. Dann machte er sich auf, auch das Fernsehen neu zu denken.

Fernsehen in den frühen neunziger Jahren muss man sich als ziemlich dröge Angelegenheit vorstellen. «Twin Peaks» intervenierte als visueller und erzählerischer Quantensprung, der den ganzen monotonen Serienmist der achtziger Jahre, von «Dallas» über «Denver Clan» bis «Knight Rider» und «Miami Vice», alt aussehen liess. Wer hat Laura Palmer getötet? Das war die simple Frage, an der dieser Krimi über das wie aus der Zeit gefallene Holzfällerstädtchen Twin Peaks festgezurrt war – ein Krimi, der jedoch bald von den putzigen Kulissen in allerlei geheimnisvolle Hinterzimmer und menschliche Abgründe vorstiess. Doch Lynch und sein kreativer TV-Gefährte Mark Frost kamen zu früh damals: «Twin Peaks» floppte – und hatte doch schon jene neue Gattung ambitionierter Serien vorweggenommen, die erst Jahre später mit den «Sopranos» ihren Anfang nehmen sollte.

Eine Hintertür zurück ins Kino

Als sich Lynch ein Vierteljahrhundert nach «Twin Peaks» und wieder zusammen mit Mark Frost daranmacht, dieses Universum mit einer dritten Staffel abzurunden, ist die TV-Landschaft erneut eine ganz andere. Und auch die Welt des Kinos hat sich fundamental verändert. Private Streamingriesen wie Netflix blasen den alten Fiktionsanstalten den Marsch, das Kino steht ebenso unter Druck wie traditionelle Fernsehsender. Und obwohl «Twin Peaks: The Return» von der Serienplattform Showtime produziert und im Netz vertrieben wird, sagt Lynch selber, eigentlich handle es sich um einen «achtzehnstündigen Spielfilm». Nach dem betont schäbigen Look seines letzten Kinofilms «Inland Empire» (2006) findet er hier auch zurück zur visuellen Pracht von einst. So ertappt man sich immer wieder beim Gedanken, dass man das alles eigentlich lieber im Dunkeln auf einer grossen Leinwand gucken möchte. Versucht Lynch vielleicht gerade, uns durch die Hintertür des Streams den Weg zurück ins gute alte Kino zu weisen?

Im Zentrum der dritten Staffel steht nun die Rückeroberung jenes Mannes, über den der deutsche Filmkritiker Georg Seesslen einst bemerkte, er sei «Mönch und Polizist, Messias und Aufklärer in einem, Philosoph und Naturwissenschaftler, Kind und Greis». Die Rede ist von der unbestrittenen Schlüsselfigur der Serie: Special Agent Dale Cooper (Kyle MacLachlan in der Rolle seines Lebens). «Wenn jemand die Welt retten könnte, dann wäre es einer wie er», schrieb Seesslen damals. In der aktuellen Auflage ist von dieser messianischen Figur lange Zeit gar nichts mehr übrig. Cooper endete ja schon in der zweiten Staffel als gespaltene Gestalt, seine eine Hälfte ein Wirtskörper des Bösen, das in «Twin Peaks» alles andere als banal ist. So handelten die ersten beiden Staffeln gewissermassen vom Scheitern der Aufklärung: der begnadete Ermittler, der sich auf seiner Spurensuche selbst abhandenkommt.

In den neuen Episoden ist der Zeichenleser nun selbst vakant geworden. Der gespaltene Agent Cooper geistert nämlich einerseits als abgrundtief böser Finsterling durch die Serie, andererseits steckt er in der Person des Versicherungsmanns Dougie Jones fest und trottet als solcher wie ein defekter Automat durch seinen bürgerlichen Alltag – ein geistloses Nullsubjekt als nützlicher Idiot. Agent Cooper, dieser mönchische Held der Aufklärung, aufgespalten in einen mörderischen Schurken und einen Trottel: Es ist die Demontage einer Kultfigur.

Wie sich die beiden Seiten des Agent Cooper nun ihren Weg zurück bahnen, das ist der Angelpunkt eines Plots, der unzählige Seitentriebe schlägt und sich immer wieder auch kopfvoran in schwindelerregende visuelle Wucherungen stürzt. Da ist etwa dieser rund um die Uhr bewachte mysteriöse Glaskubus in den ersten paar Folgen, der mit seiner kreisrunden Öffnung gegen die Nacht hinaus wie ein metaphysisches Wurmloch funktioniert; später die verlassene alte Tankstelle, die wie von selbst zu blitzen und zu qualmen beginnt wie eine Trafostation unter Überspannung; oder auch der Moment, wenn eine Figur in einem Sessel sitzt, und plötzlich ist da anstelle des Kopfes nur noch schwarzer Rauch, der aus dem Kragen aufsteigt.

«Wer ist der Träumer?»

Dabei verhält sich das Universum von «Twin Peaks» nicht einfach wie ein Traum zur Wirklichkeit, auf die man irgendwann wie auf einen festen Boden zurückkehrt. Vielmehr – und das ist eine alte Erklärung, die in einer Schlüsselszene in der dritten Staffel erneut zitiert wird – haben wir es hier gewissermassen mit einem Träumer zu tun, «der träumt und dann in diesem Traum weiterlebt». Nur: «Wer ist der Träumer?»

Darauf gibt es mehrere mögliche Antworten. Wie Georg Seesslen bereits früher angemerkt hat, ist schon das Städtchen Twin Peaks selber ein Traum aus der Pionierzeit: eine nostalgisch eingefärbte Verklärung der Tugenden von Respekt und Nachbarschaftlichkeit, von gutem Kaffee und Kirschkuchen – aber gleichzeitig ist es ein Traum von Unschuld, der das Böse gebiert. Und womöglich sind in diesen Traum von Twin Peaks noch weitere Träume verschachtelt: Wer also meint, aus dem Traum aufzuwachen, ist vielleicht gar nicht wach, sondern findet sich bloss in der nächsten Traumblase wieder.

Mediale Störfälle

Eine andere Antwort wäre: Wir sind im Traum von David Lynch. Die Welt von «Twin Peaks» ist sein hermetisches, esoterisches Künstleruniversum, eine einzigartige Vision, die ziemlich unbeleckt scheint von äusseren Einflüssen: Wenn Lynch zitiert, dann vor allem sich selbst – etwa mit den russigen Butzenmännern, die hier wie Wiedergänger jener Schreckgestalt erscheinen, die in «Mulholland Dr.» (2001) hinter einem Diner lauert. Er hat sich in der Welt von «Twin Peaks» ja auch selber eine Rolle als Chefermittler gegeben. Ganz unbescheiden gibt Lynch den schwerhörigen FBI-Direktor Gordon Cole, dessen spezielles Hörgerät nicht nur für allerhand Komik sorgt, sondern auch gewissermassen das profane Gegenstück zu all den Übertragungsfehlern und Sinnesstörungen bildet, die diese dritte Staffel permanent heimsuchen. Elektrisches Knistern, seltsam verschobene Dialogfetzen oder das bewegungsgestörte Bild, als Cooper einer Frau ohne Augen begegnet: «Twin Peaks: The Return» handelt immer auch von medialen Störfällen, die sich via Steckdosen oder Zigarettenanzünder auf verborgenen Alltagskanälen ereignen.

Mit Realismus hat das alles wenig zu tun. Aber darin besteht vielleicht sowieso die singuläre künstlerische Intervention des David Lynch: dass er keine Grenzen zwischen Massenkultur und Avantgarde sieht, sondern scheinbar unvereinbare Domänen wie Seifenoper und Experimentalfilm wie selbstverständlich aufs Innigste verschweisst. Das ist noch nie so deutlich geworden wie jetzt in der dritten Staffel von «Twin Peaks», die sich in hellen Farben und manchmal zäher Ausführlichkeit dem häuslichen Leben eines trotteligen Versicherungsmannes widmet – um dann mittendrin, eine berauschend assoziative Episode lang, einen kosmischen Trip rund um den ersten Atomwaffentest im Juli 1945 in White Sands zu zünden, zwischen tanzenden Lichtpunkten, gespenstischen Bergarbeitern und einer mutierten Flügelkröte.

So macht uns die verlangsamt, in selbstreferenziellen Schlaufen erzählte Welt von «Twin Peaks» gerade auch bewusst, wie krud realistisch, wie nahe am Hier und Jetzt viele der anderen plotgetriebenen US-Serien gebaut sind. Wie sehr sich etwa die machiavellistische Politserie «House of Cards» oder die Terrorismussaga «Homeland» an eine projizierte politische Realität anschmiegen, mit nur minimalen fiktionalen Verschiebungen und Zuspitzungen. In «Twin Peaks» ist das, was man Realität nennt, viel komplizierter verspiegelt und verdichtet: Uns begegnet hier die wilde Freiheit einer klar fiktionalen Welt, in der sich Natürliches und Übernatürliches ganz selbstverständlich verschränken.

Von wegen unpolitisch

Das heisst nicht, dass David Lynch zur politischen Gegenwart nichts zu sagen hätte, wie ihm jetzt gelegentlich unterstellt wird. Als in einer Episode einmal ein Schuss in einem Familienauto losgeht, baut Lynch diese Szene zu einem wahnwitzigen, aber sehr realen Albtraum aus, in dem sich Autohupen und irres Geschrei, monströse Körpersäfte und schiere Fassungslosigkeit überlagern – das Sinnbild eines Landes am Rande des Nervenzusammenbruchs, wie man das in solcher Verdichtung noch nie gesehen hat.

Das Kino Xenix in Zürich widmet David Lynch eine grosse Retrospektive mit all seinen Kinofilmen von «Eraserhead» bis «Inland Empire», dazu «Twin Peaks: Fire Walk With Me» und «Twin Peaks: The Missing Pieces». Bis 30. September.

Die Ideen : Kafka und der Atompilz

Wenn David Lynch über seine Filme redet, regrediert er gerne zum Schwafler. Wie vor zehn Jahren bei einem Interview in Berlin zu «Inland Empire». Immer wieder hob er dabei beide Hände, um mit seinen Fingern die Luft zu kitzeln. Das ist seine Art, zu zeigen, wie das läuft mit den Ideen: Er hat sie nicht etwa aus seinen Träumen, schon gar nicht aus Albträumen. Nein, sie fliegen ihm einfach zu, und dann verliebt er sich in sie. «Es gibt immer einen Anfang», sagte er damals. «Davor ist nichts. Dann kommen plötzlich die Ideen, und sie wachsen zu etwas heran.» Aha. Aber in einem Punkt war er völlig klar, da wurde er richtig laut mit seiner schnarrenden Stimme: «Meine Filme sind logisch, logisch, logisch!»

Das mag man sehen, wie man will. Wer aber glaubt, dass sich die verrätselten Wucherungen in Lynchs Werk einfach als reiner Obskurantismus eines bekennenden Esoterikers wegreden liessen, ist selber schuld. Es mag ja sein, dass Lynch in seinem künstlerischen Kosmos immer wieder diesen Hang ins Esoterische zeigt, aber nie sind seine Filme dabei auch nur im Geringsten missionarisch oder sektiererisch. Und allemal aufregender, als Lynchs Filme an seinen Glauben an die Kraft der transzendentalen Meditation zurückzubinden, ist es, die Zeichen in seinem Werk zu lesen (was noch lange nicht heisst, sie dann auch schon zu verstehen).

Eine besonders einprägsame Lesehilfe hat David Lynch in der dritten Staffel von «Twin Peaks» nun gut sichtbar im Büro des von ihm selbst gespielten FBI-Direktors platziert. Hinter dessen Schreibtisch hängt nämlich ein riesiges Archivbild eines Atompilzes – und genau vis-à-vis prangt das berühmte Porträt des jungen Franz Kafka, den Blick wie gebannt auf die Pracht dieser zerstörerischen Wolke gegenüber gerichtet. Die literarische Ikone der entfremdeten Moderne schaut also wie gebannt auf die Ikone der nuklearen Kriegsführung – und dazwischen hat David Lynch als schwerhöriger Ermittler seinen Sitz. Genau darum geht es letztlich immer bei Lynch: Wir müssen dem, was unsere Vorstellungen übersteigt, ins Gesicht schauen. Wer zuerst blinzelt, hat verloren.

Florian Keller

Der Sound : Blaupause für die Popwelt

Von «Twin Peaks» hat sich nicht nur David Lynchs einzigartige filmische Vision der Originalserie ins popkulturelle Gedächtnis eingebrannt, sondern auch der Soundtrack von Angelo Badalamenti. Dunkle Ambientflächen, schmerzerfüllte Kitschmelodien, loungig-luftiger Jazz: Immer wieder setzte der Regisseur Badalamentis Kompositionen in Kontrast zu den Bildern der idyllischen Kleinstadt und der Gefahr, dem Unheimlichen, dem Rätselhaften, die von ihr ausgehen. Er tat das so gekonnt, dass die Motive und Themen der Serie für die Popwelt der letzten 25 Jahre als Vorlagen dienten: Sie erzählen von Sehnsucht und Triebabfuhr, von einer oberflächlichen Scheinwelt und den Abgründen, die sich darunter auftun, von heulendem Wind, Eulen und Doppelgängern. «Twin Peaks» lieferte so sehr die Blaupause für atmosphärische Klangwelten, für Musikclips, für Bandnamen und Songtitel, dass es mittlerweile ein Klischee ist, wenn sich eine Band auf die Serie beruft.

In der dritten Staffel nun setzt Lynch den Originalsoundtrack von Badalamenti nur selten ein. Stattdessen greift er auf sein musikalisches Referenzsystem zurück, das seit den ersten beiden Staffeln stetig gewachsen ist. Etwa Sky Ferreira, Moby, Nine Inch Nails: Sie verwendeten Dialogzeilen aus «Twin Peaks» für ihr eigenes Werk, sampelten den Soundtrack oder arbeiteten direkt mit Lynch zusammen. In «Twin Peaks» tauchen die KünstlerInnen – neben einem Dutzend weiterer MusikerInnen – für einen Gastauftritt auf der Bühne des Roadhouse oder in einer Gastrolle wieder auf.

Auch Dean Hurley, der die letzten zwölf Jahre als Tontechniker für Lynch gearbeitet hat, ist wieder dabei: Zusammen entwickelten sie die Windgeräusche, die sphärischen Klänge, das elektronische Dröhnen, die wiederum im Mix des Sounddesigns landeten. Dieses setzt Lynch surreal, als zusätzliche erzählerische Ebene ein: Er überlagert Scores, lässt Geräusche den Bildern hinterherklingen, vergräbt Dialoge unter Alltagsgeräuschen und gibt so den Bildern eine unterschwellige Tiefe.

Georg Gatsas

Dean Hurley: «Anthology Resource Vol. 1». Sacred Bones Records. 2017. «Twin Peaks. Music From the Limited Event Series». Rhino/Warner. 2017. «Twin Peaks. Original Soundtrack». Rhino/Warner. 2017.