Auf allen Kanälen: Im nostalgischen Nebel
Die Popzeitschrift «Spex» wird eingestellt. Das Aus des «ideologischen Zentrums der Popweltanschauung» ist auch ein Sieg der Musikindustrie über die Kritik.
Die letzte reguläre Nummer der «Spex» ist im Handel, im Dezember gibt es noch ein Abschiedsheft. Nach 384 Ausgaben und 38 Jahren wird die Musikzeitschrift eingestellt, wie der erst seit dem Sommer amtierende Chefredaktor Daniel Gerhardt Mitte Oktober schrieb. In Berlin, wo die Redaktion seit 2006 arbeitet, gibt es kaum Musikschreibende, die über die Lage der «Spex» nicht im Bild waren. Der Münchner Verleger Alexander Lacher, dessen Piranha Media den Titel 2000 von der Herausgeberschaft ehemaliger «Spex»-AutorInnen übernahm, versuchte kürzlich erfolglos, die Zeitschrift für einen Spottpreis abzustossen.
Erstaunen konnte die Nachricht auch deshalb niemanden, weil in diesem Jahr schon einige Traditionstitel der Poppresse aufgeben mussten – etwa der 1952 gegründete britische «New Musical Express» oder «Groove», das Magazin für elektronische Musik, ebenso aus dem Münchner Piranha-Haus. Beide wollen online only weitermachen. Allerdings gibt es auf dem europäischen Festland kein einziges Beispiel für erfolgreichen Onlinejournalismus im Popbereich.
Grössenwahn!
Gefühlt alle Nachrufe auf die «Spex» in Print und Radio stammen von ehemaligen Chefredaktoren oder MitarbeiterInnen, und davon gibt es einige seit der Gründung 1980 in Köln. Und fast alle schreiben und reden über sich selbst: warum es bergab ging, als ich nicht mehr da arbeitete, warum es besser wurde, als ich der Redaktion bei einer Blattkritik mal den Kopf gewaschen habe, aber leider zu spät. Einige sind sich nicht zu schade, die «Spex» als letzten Fels in der popkritischen Brandung darzustellen. Im dichten Nebel aus Nostalgie und Grössenwahn ist es nicht einfach, die Konturen des Verschwindenden zu erkennen.
Dass man den schwierigen Begriff «Diskurs» überhaupt mit Pop in Verbindung bringt, geht hingegen sicher auf den «Kölner Kreml» zurück, auf das Zentralkomitee des, nun ja: deutschen Popdiskurses. Das ist das gängigste Klischee über die «Spex», die mit Namen wie Diedrich Diederichsen, der Künstlerin Jutta Koether, dem Kulturwissenschaftler Tom Holert und dem Autor und Journalisten Dietmar Dath verbunden ist. Doch in der dunklen Disco der «Spex»-Dämmerung wird manches ausgeblendet: Schon bei der Gründung 1980 war mit Clara Drechsler eine Frau mit dabei, und die Schwestern Kerstin und Sandra Grether versuchten ab Mitte der neunziger Jahre, Feminismus mit Fantum zu vereinen. Postmigrantische Perspektiven hielten nicht erst mit dem Rheinländer Mark Terkessidis Einzug ins Heft, und schon in den achtziger Jahren las man nicht nur intellektuell hochgepeitschte, sondern primär musikbegeisterte Texte, etwa von Sebastian Zabel, der heute den «Rolling Stone» leitet.
Sieg durch Inseratestopp
Tatsächlich erstaunt, wie unterschiedlich die Schreibweisen zu jeder Zeit waren. Die «Spex» war nie durchgehend unverständlich, und sie liess stilistische Differenz zu. Und zu ihren besten Zeiten machte sie sich auch über ihre angebliche Diskurshoheit lustig. Zwei Beispiele: Diederichsen, der zur 200. Ausgabe im Juli 1998 darüber schreibt, welche Art homosexueller Techno für einen Heterosexuellen wie ihn okay sei und welche nicht – lustig und doch ernst, weil die «Spex» bei Techno in jungen Jahren bisweilen alt aussah. Ein Editorial mit dem Titel «Es brennt noch Licht im Kreml» karikierte die Projektionen auf die Zeitschrift gleich selber als «ideologisches Zentrum der Popweltanschauung».
Die Nachrufe auf die «Spex» sind nicht neu. Sie wurden schon 2000 nach dem Verkauf geschrieben und noch einmal 2006, als der Verleger in Berlin eine neue Redaktion aufbaute. Was die Nostalgie verständlich macht: der lange Abschied von einem Journalismus, der Musik nicht nur als kulturelles Gut begreift, sondern bei Bedarf auch scharf verreisst. Ein ungebetener Gast war der Popjournalist, selten die Popjournalistin, seit jeher – doch die Musikindustrie toleriert sie nicht mehr. Jetzt hat diese gewonnen: Sie schaltet keine Inserate mehr. Das Geld fliesst zu InfluencerInnen in sozialen Medien und direkt zu Spotify oder Apple Music, wo man seine «Themen» störungsfrei pushen kann. Die gelegentliche Häme darüber, dass der «cis white male»-Musikjournalismus (den es so schon lange nicht mehr gibt), zu Recht zu Ende sei, verkennt tragisch die Richtung, in die das Geld nun fliesst.
Tobi Müller lebt als Kulturjournalist in Berlin. Seit 2009 hat er gelegentlich für «Spex» geschrieben.