Medikamentenpreise: Bonanza um eine Babyspritze
Novartis will ein Medikament auf den Markt werfen, das vier Millionen Franken pro Anwendung kosten könnte. WOZ-Recherchen zeigen, wie es zu dieser exorbitanten Forderung kommt – und wer mit dem Geld bedient werden muss.
Das Medikament heisst AVXS-101. Es wirkt direkt auf ein menschliches Gen ein und soll dabei Erstaunliches zustande bringen: Babys, die mit der stärksten Ausprägung der unheilbaren genetisch bedingten Muskelschwundkrankheit Spinale Muskelatrophie (SMA) auf die Welt kamen, hatten bis anhin kaum Chancen, sich je bewegen zu können und älter als drei Jahre zu werden. Mit einer einmalig gespritzten Dosis des Medikaments sollen sie nun offenbar zu strampeln und selbstständig zu sitzen lernen, wie erste Behandlungen zeigen. Über längerfristige Wirkungen ist noch nichts bekannt.
An einer Investorenkonferenz hat Novartis nun einen möglichen Preis für diese Behandlung genannt und damit für Aufsehen gesorgt: vier bis fünf Millionen US-Dollar. Novartis hat damit geschickt einen Versuchsballon lanciert, um die Medikamentenpreise weiter hochzuschrauben. Die Preise sollen «den Wert widerspiegeln, den die neuen Therapien für Patienten, das Gesundheitssystem und die Gesellschaft generieren», schreibt Novartis-Sprecher Satoshi Sugimoto. Das Unternehmen zeige sich dabei bereit, «Modelle zur Berechnung des Werts und die erzielten Ergebnisse in der Praxis zu dokumentieren und zu diskutieren». Dies sei ein «bedeutender Beitrag zu mehr Transparenz».
Allerdings verweigert Novartis alle Angaben, wenn man fragt, wie hoch die tatsächlichen Forschungs- und Entwicklungskosten ihres neuen Medikaments sind. Novartis wehrt sich auch vehement dagegen, dass diese Faktoren preisbestimmend sein sollen. Denn dadurch würde «jeglicher Effizienzdruck wegfallen».
Drei Spekulanten
Recherchen der WOZ zeichnen die Entstehungsgeschichte des Medikaments nach – und erklären, wieso Novartis keine Freude daran haben kann, wenn über die realen Kosten diskutiert wird, die zur Entwicklung von AVXS-101 führten. Denn das meiste von Novartis investierte Kapital ist nicht der Forschung zugutegekommen, sondern floss in die Taschen von BörsenspekulantInnen. Dazu ein Rückblick: Der Mediziner Brian Kaspar forschte ab 2004 im US-Bundesstaat Ohio an möglichen genetischen Therapieansätzen bei Krankheiten wie SMA. Er arbeitete dabei einerseits bei der Forschungseinrichtung des mit Stiftungsgeldern und Spenden finanzierten Kinderspitals Nationwide Children’s Hospital, andererseits mit der staatlich finanzierten Ohio State University. Seine Forschung wurde zudem ganz direkt mit über einer Million US-Dollar von der Stiftung Sophias’s Cure unterstützt.
2013 begannen sich drei Texaner für Kaspars Forschung zu interessieren. Der Schönheitschirurg David Genecov, der zuvor mit einer Schönheitsfarm pleitegegangen war, John Harkey, Restaurantkettenbesitzer und Verwaltungsrat von Firmen der Öl- und Gasindustrie, sowie John Carbona, Spezialist für innovatives Marketing. Die drei gründeten die Firma Avexis und machten Kaspar zu ihrem Forschungsdirektor. Mithilfe von Geldern, die der ehemalige UBS-Investmentbanker Gustavo Dolfino organisierte, sicherten sie sich Kaspars Patente. 2014 nahm Avexis Risikokapital im Umfang von zehn Millionen US-Dollar auf, unter anderem beim Schweizer Pharmakonzern Roche. Der nächste Schritt war dann der Börsengang 2016. Mithilfe der Grossbank Goldman Sachs gab Avexis Aktien zum Preis von zwanzig US-Dollar aus, um neues Kapital zu beschaffen. Das Kinderspital und die Universität von Ohio erhielten als Kompensation zusammen drei Prozent der Aktien. Die Stiftung Sophia’s Cure ging leer aus. In diesem Jahr hatte Avexis gerade einmal ein paar Dutzend Angestellte; die Forschungsausgaben beliefen sich auf 58,9 Millionen US-Dollar.
2017 verfünffachte sich der Aktienkurs, die Forschungsausgaben stiegen auf 150,4 Millionen US-Dollar, die Zahl der Beschäftigten auf 219. Das Management zahlte sich Boni in Form von Aktien aus. 2017 war auch das Jahr, in dem die Gründer und ersten Investoren ihre Aktienpakete teilweise abstiessen und die ganz grossen Vermögensverwalter einstiegen: Fidelity mit fünfzehn Prozent, Blackrock mit sechs Prozent. Sie hofften offenbar auf die Übernahme durch einen grossen Pharmakonzern. Im März 2018 wurde diese Hoffnung erfüllt. Novartis kaufte den AktionärInnen ihre Aktien mit einem Aufschlag von 88 Prozent über dem aktuellen Aktienkurs ab. 8,7 Milliarden Dollar kostete der Deal. Die leitenden Manager von Avexis wurden auf einen Schlag Multimillionäre.
Preisdiskussion ohne Transparenz
Novartis muss dieses Kapital jetzt wieder einspielen. Nicole Gusset, Präsidentin der PatientInnenvereinigung SMA Schweiz, verlangt Transparenz: «Wir wollen wissen, was wofür bezahlt wurde und wie viel Geld in die Forschung ging.»
Wie viel AVXS-101 in der Schweiz kosten darf, muss Novartis mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) aushandeln, denn die Kosten würde die IV übernehmen. Auch das BSV wüsste jeweils gerne, was die realen Forschungs- und Entwicklungskosten der Medikamente sind – doch es bekommt diese nicht zu sehen. Es orientiert sich bei den Verhandlungen an der Wirksamkeit, am Preis von alternativen Medikamenten sowie an den Preisen anderer west- und nordeuropäischer Länder. Allerdings entsprechen die offiziell bekannt gegebenen Preise zumeist nicht den realen Preisen. Oft wird – auch mit dem BSV – ein Discount ausgehandelt, der jedoch geheim bleiben muss. Damit kann sich Novartis bei Verhandlungen flexibel zeigen, ohne für weitere Länder ein Präjudiz zu schaffen. Denn schliesslich will auch das Novartis-Management mit AVXS-101 noch einen schönen Profit für seine AktionärInnen erzielen.