Bundesratswahl: Die drei politischen Leben der KKS
Ob in der Sicherheits- oder in der Wirtschaftspolitik: Karin Keller-Sutter bleibt die rechtsbürgerliche Politikerin, die sie immer war. Dennoch könnte sie den Bundesrat entscheidend verändern. Eine Begegnung.
Draussen vor dem Wiler Stadtsaal liegt ein trüber Herbstsamstag, drinnen strahlt alles um die Wette. Die silbernen Trompeten und Trommeln der Wiler Stadttambouren glänzen frisch poliert, in den Ansprachen der RednerInnen reiht sich ein Superlativ an den nächsten. Die Delegierten der FDP St. Gallen haben sich versammelt, um Karin Keller-Sutter als Bundesratskandidatin zu nominieren. «Unsere Karin», wie es in der Einladung heisst.
Der Ortsparteipräsident setzt ein: «Unsere Karin kann sich gar nicht vorstellen, wessen Karin sie alles ist.» Der Kantonalparteipräsident zählt sie zu den fähigsten PolitikerInnen im ganzen Land: «Wir brauchen sie im höchsten Amt!» Die 300 Delegierten applaudieren. «Freude herrscht!», ruft ein Regierungsrat. «Der 5. Dezember wird zum Jahrhundertevent für die St. Galler Freisinnigen!»
Selten trat ein Kandidat und schon gar keine Kandidatin derart unangefochten zu einer Bundesratswahl an wie KKS. So nennen sie die meisten, so unterschreibt Keller-Sutter auch selbst ihre Mails. Ihre KonkurrentInnen, darunter Parteipräsidentin Petra Gössi, haben alle mehr oder weniger freiwillig das Feld geräumt.
Zuletzt kapitulierte der Bündner Ständerat Martin Schmid, der auf die Stimmen der SVP hoffen konnte. Bei Sondierungen in der Fraktion habe er gespürt, dass seine Kandidatur nicht gewollt sei. «Der Wunsch für eine Frauenkandidatur war stark», liess er bei seiner Absage mitteilen, nicht ohne seine Eignung für das Amt hervorzuheben. Als Alibikandidat tritt nun der Nidwaldner Ständerat Hans Wicki an.
Man kann also annehmen, dass Keller-Sutter am 5. Dezember gewählt wird, und man darf auch annehmen, dass das niemand so genau weiss wie sie selbst. Sonst würde sie kaum nochmals antreten, nach der Niederlage bei ihrer ersten Bundesratskandidatur 2010. Damals wurde ihr Johann Schneider-Ammann vorgezogen: Er gab für die FDP nach der Finanzkrise das Idealbild des werktätigen Patrons ab. Karin Keller-Sutter hingegen galt als Hardlinerin in Asyl- und Sicherheitsfragen. Wenn sie heute auch bei vielen unbestritten ist: Wie wurde die Frau, die stets nüchtern und kontrolliert wirkt, zur Marke KKS? Und hat sich ihre Politik in den letzten Jahren verändert oder nicht?
In der Beiz geprägt
Die Suche nach Antworten beginnt am besten in Wil. Zur Nominationsversammlung ist auch Stadtpräsidentin Susanne Hartmann von der CVP gekommen. Beim Imbiss mit Bratwurst und Bier erklärt sie, die Karriere von Keller-Sutter habe mit der «aktiven politischen Kultur» in Wil zu tun. Andere St. Galler Gemeinden haben ihr Parlament abgeschafft, Wil hat seines behalten. «So bleibt der Zugang zur Politik niederschwellig», sagt Hartmann. Wil mit seinen 24 000 EinwohnerInnen spiegelt zudem die Schweiz der Gegenwart. Einerseits ist es ein Regionalzentrum mit regem Kulturleben, andererseits der letzte Aussenposten im Sog von Zürich. Einst tief katholisch, heute steht hier auch eine neue Moschee. Karin Keller-Sutter sass von 1992 bis 2000 im Wiler Parlament. Schon damals zählte die Sicherheit zu ihren Lieblingsthemen. Sie unterstützte die Schaffung einer eigenen Stadtpolizei, für eine verstärkte Polizeipräsenz auf Wils Strassen.
Für ein persönliches Gespräch lädt die Ständerätin in ihr Büro nach St. Gallen. Fragt man sie selbst nach ihrer politischen Prägung, nennt sie zuerst das Wirtshaus ihrer Eltern in Wil. Ihre Eltern seien Gewerbetreibende, «Gwärblär», gewesen. Keller-Sutter spricht das Wort schnell aus, wie es sich gehört in der Ostschweiz. Als ob in dieser Aussprache der ganze Geist einer Klasse läge: Der «Gwärblär» ist schnell, berechnend, dadurch aber auch verlässlich. Im Wirtshaus ihrer Eltern lernte Keller-Sutter als Mädchen das Einmaleins der Politik: «Die Gespräche über neue Vorschriften oder die Steuern hatten oft einen politischen Bezug.» Sicherheit, Gewerbe, Demokratie in der Beiz: Das sind die drei Grundkonstanten in der Politik von Karin Keller-Sutter.
Immer dem Kompass nach
Auf die Sicherheit setzte sie als St. Galler Regierungsrätin ab dem Jahr 2000. Erst punktete sie mit einem Gesetz gegen häusliche Gewalt auch bei den Linken, dann mit Verschärfungen in der Asylpolitik und Schnellgerichten gegen Fussballfans nur noch bei den Rechten. Bei aller Freundlichkeit im Gespräch: Keller-Sutter würde das heute wieder alles genau so machen. «Die Verschärfungen im Asylgesetz waren nötig. Ich stehe heute noch dazu, dass man das Gesetz so ausrichtet, dass Wegweisungen konsequent umgesetzt werden können.» Im Übrigen, ergänzt Keller-Sutter, sei ihre Politik von der Bevölkerung damals in Abstimmungen mitgetragen worden und werde heute von der SP-Justizministerin Simonetta Sommaruga fortgesetzt.
Dass Keller-Sutter in der Öffentlichkeit kaum mehr als Hardlinerin in Sicherheitsfragen wahrgenommen wird, liegt nicht daran, dass sie ihre Meinung geändert hat, sondern daran, dass sich ihre Meinung durchgesetzt hat. Die unnachgiebige, bürokratische Verwaltung von Flüchtlingen gilt heute bis in die Sozialdemokratie hinein als normal.
Ihre öffentliche Wahrnehmung hat sich aber auch verändert, weil Keller-Sutter nach ihrer Wahl in den Ständerat geschickt die Themen geändert hat. «Ich wollte zurück zur Wirtschafts- und Gewerbepolitik, mit denen ich mich schon als Kantonsrätin beschäftigt hatte», sagt sie. Passend dazu nahm sie wichtige und lukrative Verwaltungsratsmandate an, im NZZ-Verwaltungsrat oder bei der Baloise-Versicherung. Nicht zuletzt dank ihres neuen Fokus harmoniert Keller-Sutter mit ihrem Ständeratskollegen Paul Rechsteiner von der SP. Ideologisch liegen zwischen den beiden bei Verteilungsfragen Welten, zur Zufriedenheit ihrer jeweiligen WählerInnenschaft. Bei regionalpolitischen Anliegen, etwa dem vernachlässigten Eisenbahnbau in der Ostschweiz, spannen sie hingegen zusammen, zur Freude der meisten WählerInnen. Verärgert zurück bleibt nur Toni Brunner mit seiner SVP.
In ihrer Wirtschaftspolitik folgt Keller-Sutter einem liberalen Kompass, wie sie ausführt: «Privat vor Staat, Erwirtschaften vor Verteilen, Freiheit vor Gleichheit.» So ist sie beispielsweise gegen Frauenquoten in Verwaltungsräten. «Ich finde es nicht richtig, dass man als Gesetzgeber den Eigentümern eine Quote vorschreibt.» Ihre Abneigung gegen Regulierungen zeigt sich am deutlichsten beim Umweltschutz. In ihrem Smartspiderprofil befindet sie sich hier praktisch am Nullpunkt. Als kürzlich im Ständerat diskutiert wurde, ob Palmöl vom Handelsabkommen mit Malaysia ausgenommen werden soll, gab sie als Präsidentin den Stichentscheid: dagegen.
Keine Dynastie, kein Erbe
KKS, die strenge Sicherheitspolitikerin. KKS, die neoliberale Wirtschaftspolitikerin. Karin Keller-Sutter wird im Bundesrat die rechtsbürgerliche Politikerin bleiben, die sie immer war. Aber da ist eben noch etwas Drittes, was wohl mit ihrer Herkunft aus der Beiz zu tun hat. Damit, dass ihre Eltern die CVP wählten, sie aber bei den Jungfreisinnigen einstieg. Dass sie sich bei einem Aufenthalt in London als junge Frau für The Clash begeisterte und bis heute Punk hört. Dass sie im Off auch einmal ihre kontrollierte Fassade aufgibt und gerne andere Politiker parodiert, vornehmlich wichtigtuerische Männer. Man kann dieses Etwas als Unabhängigkeit bezeichnen.
«Ich komme aus keiner Dynastie, habe keinen Namen und kein Erbe. Was ich gemacht habe, das habe ich selbst gemacht», sagt Keller-Sutter. Dass sie es als Wirtstochter, die Dolmetscherin lernte, nach oben schaffte, erfüllt sie mit Genugtuung. Ihren freisinnigen Förderern gegenüber zeigt sie sich aber grosszügig: «Sie haben anerkannt, was ich gemacht habe. Das zeigt eben, dass sie liberal sind.» Instrumentalisiert worden sei sie nie. «Wenn sie irgendein ‹Bäbeli› wollten, dann haben sie die Falsche erwischt. Ich bin ein kritischer Geist. Wenn ich anderer Meinung bin, dann sage ich es auch.» So ist sie aus dem NZZ-Verwaltungsrat wieder ausgestiegen, weil sie dessen Regionalstrategie nicht länger mittragen wollte.
Diese Unabhängigkeit von Keller-Sutter könnte den Bundesrat durchaus verändern. Gerade die freisinnigen Bundesräte Johann Schneider-Ammann und Ignazio Cassis wirken ideologisch ferngesteuert. Ob in der Europapolitik oder bei der Waffenausfuhr: Immer wieder blitzte das plumpe Parteiinteresse durch, wobei bei Cassis noch nicht einmal immer ganz klar ist, ob es das Interesse der FDP oder das der SVP ist.
Die Lust am Kompromiss
Darauf angesprochen, gibt sich Keller-Sutter zurückhaltend. «Es fällt einfach auf, dass die Vorlagen des Bundesrats im Parlament stark umgebaut werden.» Sicher sei es als Parlamentarierin spannend, nach konstruktiven Lösungen zu suchen, wie sie das selbst im Steuer-AHV-Deal getan habe. Die wichtigen Geschäfte sollte der Bundesrat aber mit einer gemeinsamen Handschrift prägen.
Das wichtigste Geschäft in der nächsten Zeit bleibt die Europapolitik, die in einer Sackgasse steckt. «Ich bin klar der Meinung, dass man den Lohnschutz nicht nach Brüssel delegieren kann», sagt Karin Keller-Sutter zu den Verhandlungen über ein Rahmenabkommen.
Der EU gehe es nicht um eine technische Anpassung, sondern um eine Aufweichung der flankierenden Massnahmen. «Wir haben hier höhere Löhne und am meisten Entsendungen von Arbeitskräften.» Es sei deshalb auch aus einer liberalen Sicht richtig, dass in der Schweiz überall Schweizer Löhne bezahlt werden müssten. «Alles andere bedeutet eine Wettbewerbsverzerrung und führt zu sozialem Unfrieden.»
Für Karin Keller-Sutter geht es in der Europapolitik nur vorwärts, wenn FDP und CVP eine Allianz mit den Linken und den Gewerkschaften bildeten. «So sind die Machtverhältnisse in diesem Parlament: Jede Partei kann nur mit zwei anderen zusammen eine Mehrheit finden.» Ganz begeistert spricht sie jetzt über das Schmieden von Allianzen: «Den Austausch finde ich extrem spannend. Zu spüren, wo der sensible Punkt einer anderen Gruppierung liegt. Einen Kompromiss zu suchen, ohne den eigenen Kompass zu verlieren.» Wenn man ihr nicht gerade das Verteidigungsdepartement übergibt, wird KKS in ihrem dritten politischen Leben als Bundesrätin vielleicht Gewerbetreibende in Sachen Demokratie.