Körperkino: Streicheln im Labor
Ein Monstrum? Betrug am Publikum? Adina Pintilies Film «Touch Me Not» ist ein Therapiereigen zur Erkundung ungenormter Körperlichkeit und Sexualität. Dass der Film den Goldenen Bären gewann, löste bei KritikerInnen Entrüstung aus.
Und dann, im letzten Satz, liess er alle Hüllen fallen: «Es gab in Berlin schon schlechtere Gewinner. Aber keinen schlimmeren.» Ein vielsagendes Verdikt, das der Kritiker der FAZ da über Adina Pintilies Film «Touch Me Not» niedergehen liess. Das Problem ist demnach nicht, dass der Film richtig schlecht wäre – «schlimm» soll er sein. Das war durchaus moralisch gemeint, denn der Kritiker fuhr noch schwereres Geschütz auf, schrieb von «Betrug» am Publikum und vom «Monstrum», das die Regisseurin erschaffen habe: einen Film nämlich, «in dem selbst die Wirklichkeit wie eine Lüge aussieht».
Der Mann war nicht allein mit seiner Entrüstung. Auch die Kollegin von der NZZ ventilierte ihren heiligen Zorn gegen eine Regisseurin, die «ihr Publikum zwingt, sich Intimitäten anzuschauen, die Schamgrenzen verletzen», und die uns so «zu Gefangenen ihrer Wahrnehmung» degradiere. Mal abgesehen davon, dass niemand gezwungen wird, sich diesen Film anzuschauen: Liegt nicht gerade darin ein Reiz des Kinos, dass es uns bannt und in eine Wahrnehmung versetzt, die sich nicht mit unserer eigenen deckt? Kino ist bis zu einem gewissen Grad immer Bondage, ein Fesselspiel.
Also einmal tief durchatmen, bitte.
Auf Distanz zum Callboy
Was ist das für ein Film, der so heftige Affekte auslöst, dass die Kritik ihm blindwütig gar strafbare Handlungen wie Betrug und Nötigung zuschreibt? «Touch Me Not» ist ein Experiment; ein Versuch über den menschlichen Körper als Kontaktstelle und als Komplex von Identität und Fremdheit, von Lust und Ekel, von Abwehr und Offenheit. Dass der ganze Film als Versuchsanordnung zu sehen ist, als semifiktionale Laborsituation, macht die rumänische Regisseurin Adina Pintilie von Anfang an transparent – mit ihrem hochgradig klinischen Setting, mit dem sterilen Look ihrer Bilder, aber vor allem auch darin, wie sie den Prozess offenlegt. Da wird eine Kamera aufgebaut, eine Glasscheibe davor montiert, darin spiegelt sich die Regisseurin, die dann, mit schwer betroffenem Blick, zum Beispiel fragt: «Warum bin ich in deinem Schlafzimmer?»
Die Frage geht an die britische Schauspielerin Laura Benson, die im Film sich selbst spielt oder zumindest eine Version ihrer selbst. So sehen wir ihr dabei zu, wie sie mit verschiedenen Dienstleistungen ihr verspanntes Verhältnis zur Sexualität und zu ihrem eigenen Körper zu bewältigen versucht: in der Begegnung mit einem Callboy, dem sie beim Duschen und beim Masturbieren zuschaut, stets auf Distanz zu ihm; mit einem Körpertherapeuten, der eine urtümliche Wut in ihr triggert; oder mit einer älteren Transfrau, die ganz kompetent über Brahms plaudert, aber auch über ihre Brüste, die sie Lilo und Gusti getauft hat.
In einem anderen Labor sieht es aus wie im Begegnungsseminar einer Sekte der Achtsamkeit: Ein weisser Raum, alle sitzen in weisser Kleidung am Boden und berühren einander sanft im Gesicht. Mittendrin: der isländische Schauspieler Tomas Lemarquis, der dem Häuflein Mensch ihm gegenüber, dem schwerbehinderten Christian Beyerlein, in die schönen blauen Augen schaut oder ihm den Speichel abtupft.
Manchmal, sagt Beyerlein einmal, komme er sich vor wie ein Gehirn, das herumgetragen werde, ohne Körper. Dann aber schwärmt er offenherzig von der Lust, die er beim Sex empfindet. Lemarquis wiederum erzählt, wie das war für ihn, als ihm mit dreizehn Jahren sämtliche Haare am Körper ausfielen, wie er also praktisch über Nacht vom hübschen Jungen zum Sonderling wurde.
Das Kino wird hier zu einer gestalttherapeutischen Anstalt, zum geschützten Spielraum, wo physische Erfahrungen ausgetauscht und verhandelt werden – auf der Suche nach jenem utopischen Ort, wo die sozialen Normen, wie ein Körper zu sein und wie er Erfüllung zu finden hat, aufgehoben sind. «Touch Me Not» ist also ein einziger grosser Therapiereigen, oft profund, dann wieder furchtbar banal oder auch peinlich. Und immer fragt irgendwer: «Wie fühlt sich das jetzt an für dich? Wie geht es dir dabei?»
Die andere Frage wäre: Wie geht es uns dabei? Jedenfalls wird nie ganz klar, wer hier eigentlich genau therapiert werden soll und wozu: die Regisseurin und die Schauspielerin, die als ihre Stellvertreterin agiert, gewissermassen ihr Double? Oder irgendwie auch wir selbst, das Publikum?
Die Grenzen verwischen
Es geht eine kühle, zerebrale Sinnlichkeit von diesem Film aus, aber manchmal streut Pintilie auch ganz zauberhafte Körperbilder ein, in denen wir die Entgrenzung erfüllt sehen, von der hier vor allem geredet wird. Vom Kopf abwärts fährt die Kamera sachte einem Körper entlang, bis wir irgendwann realisieren, dass das Bild unmerklich eine Verwandlung durchlaufen hat: Das war doch eben noch ein Mann, jetzt liegt da eine Frau. Es ist eine programmatische Szene für diesen Film, in dem Spiel und Wirklichkeit, Fiktion und Dokumentarisches zu einem unentscheidbaren Dritten verschmelzen sollen: Katharsis durch Ambivalenz, befreit von jeder Eindeutigkeit.
Pornografisch ist übrigens nichts an diesem filmischen Experiment. Nicht einmal dann, als Pintilie ihre Figuren in einem Sexclub vereint, wo im Dunkel unter hartem Strobolicht die Grenzen zwischen den Körpern verwischen. Die Fragen, die bei «Touch Me Not» auf dem Spiel stehen, sind ohnehin bei weitem nicht nur aufs Sexuelle beschränkt. Haare seien immer auch eine Maske, sagt etwa der haarlose Tomas Lemarquis einmal. Aber wer wirkt denn nun maskenhafter: dieser wohlproportionierte Mann ohne jede Maske, der immer ein wenig aussieht wie ein Geschöpf aus einem biotechnologischen Labor, nackter als nackt, oder der haarige Christian Beyerlein, der ihm gegenübersitzt, sein Gesicht permanent wie zur Fratze entstellt?
Wer der Regisseurin in einem moralischen Abwehrreflex unterstellt, sie nutze hier namentlich Beyerlein für ihre private Vision von selbstbestimmter Sexualität aus, hat diesem offenbar nicht zugehört. Dafür aber, dass uns Pintilie so plastisch mit den vielfältigsten Körperlichkeiten konfrontiert und damit tatsächlich unseren Blick verändert, bleibt «Touch Me Not» andernorts ärgerlich im Ungefähren. Dort, wo die Regisseurin und ihre Schauspielerin von der Prägung durch ihre Eltern sprechen, flüchten sich beide in ominöse Andeutungen, die alles heissen könnten oder auch nichts. Schlimm ist das nicht, auch nicht monströs. Nur seltsam vage und verzagt für einen Film, der so furchtlos eine neue Körperpolitik von ungenormter Lust erkunden will.
Touch Me Not. Regie und Drehbuch: Adina Pintilie. Rumänien 2018
Preisgekrönte Regisseurin
Die Rumänin Adina Pintilie (38) wurde in Bukarest geboren und studierte an der dortigen Universität für Kunst und Theater. Ihr knapp einstündiger Dokumentarfilm «Nu te supara, dar …» (2007), in dem sie die PatientInnen einer psychiatrischen Klinik porträtierte, lief einst im Wettbewerb von Locarno und gewann unter anderem die Goldene Taube des DOK Leipzig. «Touch Me Not» (2018) ist ihr erster Langfilm.