Paul Rechsteiner: «Die Frauen sind heute die dynamischsten Kräfte in der Gewerkschaft»
Der St. Galler Ständerat Paul Rechsteiner war zwanzig Jahre lang Präsident des Gewerkschaftsbunds, nun tritt er ab. Ein Gespräch über Sachlichkeit, patriarchale Strukturen und die Zukunft der Gewerkschaftsbewegung.
WOZ: Herr Rechsteiner, SVP-Nationalrat Luzi Stamm hat einmal über Sie gesagt, Sie seien ein gefährlicher Mann. Er sagte auch: «Er weiss immer mehr als alle anderen. Gleichzeitig nimmt er dauernd unbegreiflich linke Positionen ein.» Damit hat er Sie doch ziemlich gut getroffen?
Paul Rechsteiner: Hm, lassen wir das mal so stehen.
Sie verdrehen die Augen. Dass Sie immer lieber über die Sache reden als über sich selbst, hat Ihnen auch schon den Vorwurf der Humorlosigkeit eingebracht.
Wie humorvoll ich bin, ist sicher vom Thema abhängig. Meine Aufgaben erfordern den nötigen Ernst und auch ein gewisses Beharrungsvermögen. Das gilt gerade für die grossen Themen. Da braucht es auch die Fähigkeit, mit Rückschlägen umzugehen.
Sie stammen aus einem konservativen, katholisch geprägten Milieu. In den achtziger Jahren kämpften Sie in St. Gallen als junger Anwalt und Politiker für die Rehabilitierung des Polizeihauptmanns Paul Grüninger. Wie wichtig war dieser Kampf für Sie?
Er war schon sehr prägend. Ich war früh in Bewegungen engagiert, für die Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit die zentralen Forderungen waren. St. Gallen war zu dieser Zeit ein Spezialfall. Es herrschte lange Zeit ein zweifelhafter Umgang mit der eigenen Geschichte. Deshalb war es dringend nötig, die herrschenden Machtverhältnisse zu durchbrechen. Und in den achtziger Jahren schien das plötzlich auch möglich. Für mich begann alles mit Niklaus Meienbergs Reportage über den «Landesverräter Ernst S.», einen St. Galler, der während des Zweiten Weltkriegs hingerichtet worden war – eine riesige Ungerechtigkeit. Paul Grüninger wiederum war ein blühendes Beispiel für den Mut eines Einzelnen, sich gegen die antisemitische Politik des Bundesrats zu stellen. Dafür, dass er Hunderte Juden vor der Naziverfolgung gerettet hatte, zahlte er einen hohen Preis. Und die St. Galler Behörden wehrten sich bis weit über seinen Tod hinaus gegen seine Rehabilitierung. Diese hatte schliesslich grosse Auswirkungen auf die Auseinandersetzung der Schweiz mit ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg.
War der Kampf gegen Machtverhältnisse auch Ihr Antrieb als Gewerkschaftspräsident?
Das kann man sicher so sagen. Wobei das alles gar nicht wirklich auf der Hand gelegen hatte.
Wie meinen Sie das?
Als ich 1986 in den Nationalrat kam, politisierten die Gewerkschaften am rechten Flügel der Linken. Sie kamen aus Jahrzehnten des wirtschaftlichen Aufschwungs, es gab kaum Arbeitslosigkeit, entsprechend hatte man den Streik als Mobilisierungsmassnahme komplett verlernt. Niemand rechnete damit, dass in den Neunzigern eine grosse Krise kommen würde – und mit ihr die neoliberalen Angriffe auf den Sozialstaat und den Service public. Die Gewerkschaften standen in dieser Situation mit dem Rücken zur Wand. Vor diesem Hintergrund hat man mich 1998 für das Präsidium angefragt.
Die Gewerkschaften sind unter Ihrer Führung kämpferischer, migrantischer und weiblicher geworden. Wie viel davon ist Ihr Verdienst?
Viele Prozesse waren schon vor meinem Amtsantritt eingeleitet worden. Enorm wichtig war die Entwicklung der damaligen Baugewerkschaft GBI, die sich unter der Führung von Vasco Pedrina bereits stark für Migrantinnen und Migranten geöffnet hatte, auch auf Kaderebene. Diese Entwicklung versuchten wir auf gewerkschaftspolitischer Ebene weiterzuführen. Für die Gleichstellungsfrage war sicher der Frauenstreik von 1991 ein entscheidendes Ereignis. Davor hatten die Frauen innerhalb der Gewerkschaften keine zentrale Rolle gehabt.
Sind die patriarchalen Strukturen überwunden? Immerhin gilt Pierre-Yves Maillard als Favorit im Rennen um Ihre Nachfolge. Dabei war nach zwanzig Jahren männlicher Führung anfangs der Ruf nach einer Frau gross. Und mit Barbara Gysi gibt es auch eine valable Kandidatin.
Ich äussere mich nicht zur Wahl meiner Nachfolge. Klar ist: Der Gleichstellungsprozess ist noch nicht abgeschlossen. Aber im Gegensatz zu früher gibt es eine grosse Sensibilität. Und die Frauen gehören zu den dynamischsten Kräften innerhalb der Gewerkschaft. Es ist etwa eine riesige Dynamik rund um den Frauenstreiktag 2019 entstanden. Und die Grossdemonstration für Lohngleichheit im September war ein starkes Signal dafür, dass die Frauen bereit sind, die Machtfrage zu stellen.
Dennoch: Kann es sich der Gewerkschaftsbund leisten, wieder einen Mann an die Spitze zu wählen?
Am Ende wird die Weisheit der Bewegung entscheiden. Die aktuelle Dynamik rund um den Frauenstreiktag wird aber so oder so für die Zukunft der Gewerkschaften und der Gesellschaft prägend sein.
Ein letztes grosses Ausrufezeichen haben Sie als Gewerkschaftsboss bei den Verhandlungen über das Rahmenabkommen gesetzt. Sie weigerten sich, über die Aufweichung des Lohnschutzes zu verhandeln. Werden sich die Gewerkschaften durchsetzen?
Wir haben klargemacht, dass wir Abbaumassnahmen beim Lohnschutz nicht mittragen. Die aktuelle Desorientierung des Bundesrats in dieser Frage ist desaströs. Natürlich war der Lohnschutz nie ein bürgerliches Anliegen, aber bislang war der Bundesrat so schlau anzuerkennen, dass er die Voraussetzung für die europäische Öffnung ist. Jetzt sind die Gewerkschaften die Garanten des Lohnschutzes als rote Linie. Wir müssen mit neuen Angriffen auf den Arbeitnehmerschutz rechnen, aber notfalls werden wir das Referendum ergreifen.
Sie standen immer für eine europäische Öffnung ein. Diese ist nicht nur von rechts unter Druck. Auch Teile der Linken wollen gegen Lohndumping die Grenzen schliessen. Was ist da die Antwort der Gewerkschaften?
Die SVP wird in den nächsten Jahren einen Grossangriff auf die Personenfreizügigkeit führen. Da ist es umso wichtiger, dass die Linke die Grundorientierung behält und die Personenfreizügigkeit als grosse Errungenschaft verteidigt. Natürlich immer verknüpft mit einem harten Lohnschutz, diese beiden Dinge sind verbunden wie siamesische Zwillinge. Die Schweiz ist stark geprägt durch ihre wirtschaftlichen Erfolge, zu denen Personen mit ausländischem Pass viel beigetragen haben. Rund ein Drittel aller Arbeitsstunden in der Schweiz wird von ihnen geleistet.
Die beste Antwort wäre doch eine wirksame gesamteuropäische Lohnschutzpolitik. Warum klappt die Zusammenarbeit der europäischen Gewerkschaften nicht besser?
Eine Vernetzung findet schon statt, die europäischen Gewerkschaften unterstützen uns im Kampf für einen starken Lohnschutz in der Schweiz. Aber es gelingt den Gewerkschaften derzeit nicht, sich in Europa in eine Machtposition zu bringen. Dabei muss die soziale Frage auch innerhalb der EU dringend wieder stärker gewichtet werden, gerade angesichts der erstarkten rechtspopulistischen Parteien. Der Kampf für den Lohnschutz setzt da ein wichtiges Zeichen.
Warum haben die Gewerkschaften nicht mehr Gewicht?
Linke Bewegungen haben derzeit weltweit einen schweren Stand. Doch die Geschichte verläuft nie linear. Die Rechten haben keine Antworten auf die grossen Herausforderungen unserer Zeit wie den Klimawandel oder die technologischen Entwicklungen. Es braucht eine Neuerfindung der Linken, und die Gewerkschaften spielen dabei eine grosse Rolle.
Doch die Gewerkschaften leiden unter Mitgliederschwund. Hat man noch die richtige Antwort auf die brennenden Themen?
Das wird sich zeigen. Bei der Digitalisierung geht es eigentlich um eine klassische gewerkschaftliche Aufgabe: um die Verteidigung des Arbeitsrechts. Es ist zentral, die Gesamtarbeitsverträge zu stärken, da diese durch die Auslagerung an Subunternehmer immer öfter unterlaufen werden. Auch der Zugang zu Aus- und Weiterbildungen spielt eine wichtige Rolle, da sich der Arbeitsmarkt schneller wandelt. Ein sehr kritisches Feld ist die Arbeitszeit, wo mit der Revision des Arbeitsgesetzes gerade ein bürgerlicher Demontageversuch stattfindet. Und natürlich müssen wir uns auch immer mit der Frage nach der Organisation der Arbeit auseinandersetzen, etwa wenn es um die Kinderbetreuung geht.
Die WOZ hat kürzlich die 24-Stunden-Woche gefordert, die SP zumindest die 35-Stunden-Woche. Warum kommen solche Ideen nicht von den Gewerkschaften?
Ich bin da wohl etwas pragmatischer. In der Realität spielen die Gesamtarbeitsverträge eine zentrale Rolle. Und dabei die Verbesserung der Löhne. Bei der Arbeitszeit geht es derzeit vor allem darum, Verschlechterungen und Arbeitszeiterhöhungen abzuwehren.
Sie treten als Gewerkschaftspräsident zurück, bei den Ständeratswahlen nächstes Jahr aber wieder an. Warum?
Der Ständerat hat sich zu der Kammer gewandelt, die die institutionelle Verantwortung wahrnimmt. Er ist nach dem Rechtsrutsch bei den letzten Wahlen zum Gegengewicht des Nationalrats geworden, was zeigt, dass unsere Institutionen funktionieren. Eine starke Stellung der Linken ist dafür die Voraussetzung. Dazu möchte ich meinen Beitrag leisten.
Nach dem Rücktritt als Gewerkschaftspräsident werden Sie etwas mehr Zeit für Privates haben. Gibt es Dinge, die Sie nun endlich tun wollen? Öfter mal spazieren gehen zum Beispiel?
Na ja, ich bin weiterhin Ständerat und als Anwalt für Arbeitsrecht und Strafrecht tätig, dazu auch noch für die Paul-Grüninger-Stiftung. Ehrlich gesagt bin ich noch gar nicht so weit, mir über solche Dinge Gedanken zu machen. Ich war ja jetzt immer mit vollem Tempo unterwegs. Das wird wohl auch noch eine Weile so bleiben.