«Against Creativity»: Ausweitung der Kreativitätszone

Nr. 5 –

Anfällig für Interpretationen aller Art: Hinter dem omnipräsenten Boom der Kreativität lauerten Austeritätspolitik und Prekarisierung, bilanziert der Stadtgeograf Oli Mould in einer Brandschrift.

Die Kreativität muss vor ihren BlitzverwerterInnen gerettet werden: Im Arts District von Los Angeles. Foto: Alamy

Der Begriff «Kreativität» hat in den letzten Jahrzehnten eine steile Karriere hingelegt. Die schon von den Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhobene, schliesslich von der 1968er-Revolte aufgegriffene Forderung nach der Verschmelzung von Kunst und Leben zwecks Verbesserung der Gesellschaft scheint damit erfüllt. Mehr noch, Kreativität gilt nicht nur als gesellschaftliches Ideal, sondern vor allem in der Politik inzwischen auch als eine Grundlage künftigen wirtschaftlichen Erfolgs. In Zeiten härter werdender globaler Konkurrenz erscheint sie als Rettungsanker.

Als Schauplatz und Lieferantin dieser Kreativität wird gerne die eher diffuse und dehnbare Zone der sogenannten Kreativwirtschaft beschworen. Diffus und dehnbar, weil die unterschiedlichsten Aktivitäten und Tätigkeitsbereiche ihre Zugehörigkeit zur Kreativwirtschaft für sich beanspruchen können und dies auch tun.

Die Frischzellenkur

Doch ausgerechnet KünstlerInnen wehren sich immer häufiger gegen diese zweckorientierte Kreativitätsrhetorik. Sie finden, dass sie zumeist im Dienst einer unmittelbaren ökonomischen Verwertung überbeansprucht wird. Sichtbar wird das etwa an den sich häufenden KünstlerInnenprotesten gegen das sogenannte Artwashing, also die Imagepolitur durch Kunst. Man denke nur an die erfolgreichen Proteste gegen den Ölkonzern BP als Sponsor aufsehenerregender Kunstprojekte in der Londoner Tate Modern oder die Aktionen gegen die Ansiedlung von immer mehr Galerien und die folgende Aufwertung ehemaliger Industriequartiere im Osten von Los Angeles. Selbst wenn einzelne Kunstschaffende dabei sogar etwas verdienen, landet der Löwenanteil der Gewinne in der Regel anderswo, zum Beispiel bei Immobilienentwicklern.

Diese Proteste hält Oli Mould, Verfasser der Brandschrift «Against Creativity», für Symptome einer zunehmenden Entzauberung der allgegenwärtigen Kreativitätsrhetorik. Mould, Blogger auf der Plattform opendemocracy.net sowie Universitätsdozent für Stadtgeografie in London, zeichnet ein Inventar der diversen Auswüchse dieser Kreativitätsrhetorik. Bittere Ironie: Sie kommt inzwischen jenen am wenigsten zugute, die ursprünglich treibende Kräfte bei der Ausweitung der Kreativitätszone waren.

Massive Weichenstellungen in diese Richtung geschahen Mould zufolge im Zuge einer zunächst besonders kulturfreundlich wirkenden Entwicklung im Grossbritannien der späten 1990er Jahre. Damals wurde unter der Regierung von Tony Blair und New Labour ab 1997 die Ära der «creative industries» ausgerufen. Letztere galten fortan als Allheilmittel gegen die Folgen des von der Deindustrialisierung gebeutelten Grossbritannien. Das Patentrezept: Mit der gezielten Aufwertung und Vermarktung kultureller Ressourcen, namentlich der Popkultur, sollte sich «Cool Britannia» einen Platz in einer postindustriellen Welt sichern. Auch die kulturelle Umnutzung ehemaliger Fabriken gehörte zum Konzept. Diese hatte schon 1961 die Stadtforscherin Jane Jacobs in ihrer bahnbrechenden Studie «The Death and Life of Great American Cities» propagiert.

Weitere Unterstützung für die Frischzellenkur durch Kreativität kam zunächst aus den USA. Dort publizierte der Wirtschaftsgeograf Richard Florida 2002 seine Studie «Rise of the Creative Class». Sie wurde rasch zur Bibel aufgeschlossener UrbanistInnen. Florida zeigte, wie Städte künftig funktionieren müssten, damit sie die angeblich überlebenswichtige neue «Klasse» der «Kreativen» anzögen. Aus seinen Statistiken las er heraus, dass die Kreativen nicht nur die traditionelle Arbeiterschaft, sondern auch die Dienstleistungsindustrie ablösten. Um die Jahrtausendwende waren demnach schon rund dreissig Prozent der Jobs in den Vereinigten Staaten der «creative class» zuzurechnen. Entscheidend war dabei, dass laut Florida zur wachsenden kreativen Klasse keinesfalls nur Kunst- und Kulturschaffende im engeren Sinn gehören. Damit trug Florida zum breiten und arg undifferenzierten Verständnis der «Kreativitätswirtschaft» bei.

Der Flurschaden, den der Hype rund um die «creativity» und die «creative class» angerichtet hat, ist aber in Grossbritannien besonders gross. Deswegen wundert es kaum, dass Mould in zentralen Passagen seines Buches mit Beispielen von dort aufwartet.

Schlecht entlöhnte Arbeit

Zunächst zeigt Mould in einem kurzen historischen Abriss, warum sich der Begriff «Kreativität» so gut als Element der Innovationsrhetorik eignete: Er war schon immer etwas nebulös und damit anfällig für Interpretationen aller Art. Verkürzt gesagt, beruht sein Boom auf einem einseitigen Verständnis von Kreativität als Wachstumsressource für eine kapitalistisch geprägte Wirtschaft.

Speziell ergiebig sind Moulds Beschreibungen der Bereiche, in denen die Kreativitätsrhetorik besonders desaströs gewirkt hat. So dient sie etwa dazu, eine Umgestaltung der Arbeitswelt, die meist zuungunsten der Arbeitnehmenden ausfällt, zu maskieren mit Stichworten wie «smart working», «co-working», «flache Hierarchien» oder «Ich-Unternehmer». Deutliche Spuren hat sie überdies in der Austeritätspolitik, in einer vor allem von Algorithmen getriebenen Digitalisierung, im Blick auf Behinderungen und in der aktuellen Stadtentwicklung hinterlassen.

Und während das Verschwimmen der Grenze zwischen Arbeit und Freizeit bei kreativen künstlerischen oder wissenschaftlichen Tätigkeiten von jeher zum Rollenverständnis gehört, wurde es in den letzten Jahren zunehmend auch auf Arbeitsverhältnisse übertragen, die früher nicht im Verdacht der Kreativität standen. Das geschah vor allem mit dem Ziel, den Schutz der Angestellten auszuhöhlen. Im Dunstkreis der eigentlichen «Kreativbranche» sind die Auswirkungen aber am extremsten: Zeitverträge und Dauerpraktika, die angeblich «gut für den Lebenslauf», jedoch schlecht oder gar nicht entlöhnt sind, fördern hier die Prekarisierung. Hingegen verschleiert das Mantra der «kollaborativen Kreativität», dass die herrschenden wirtschaftlichen Strukturen nach wie vor – vor allem via Copyright und sonstige Lizenzgebühren – Individuen honorieren, aber keinesfalls die als besonders kreativ propagierte Gruppenarbeit. Beispiele reichen vom Silicon Valley bis zu den Start-ups der Gegenwart.

Hat der herrschende Kreativitätsbegriff wenigstens zu einer höheren Wertschätzung der menschlichen Individualität geführt? Auch hier sind Zweifel angebracht. Das zeigt sich etwa an der mangelnden Integration von Menschen mit Beeinträchtigungen. Eine Gesellschaft, der es wirklich um Kreativität ginge, müsste eigentlich an den besonderen Wahrnehmungen und Perspektiven solcher Menschen interessiert sein. Eines von Moulds Beispielen ist der erblindete Architekt Chris Downey, der ein spezifisches Sensorium für die Gerüche, Lichtverhältnisse und Geräusche in der Stadt entwickelte und dies für künftige Planungen fruchtbar machte – zum Nutzen aller. Aber trotz des «Kreativitätsfiebers» in unserer Gesellschaft dominiert bei der Definition von Behinderung ein defizitorientiertes Modell. Die Norm ist der von der Medizin definierte perfekte Körper. Mould sieht hierin eine aktuelle Variante der vom französischen Philosophen Michel Foucault beschriebenen «Biopolitik». Statt Schwächen zuzulassen und auf diese einzugehen, will man sie lieber beheben, korrigieren oder ausmerzen.

Nachdenklich stimmen auch Moulds Analysen zur Austeritätspolitik der letzten Jahre. Hier wurde von der Politik oft genug in fast zynischer Weise an die «Kreativität» der Betroffenen appelliert, wenn es etwa darum ging, zuvor vom Staat wahrgenommene, durch diesen aber nicht mehr finanzierbare Leistungen an die BürgerInnen zurückzureichen.

Ein radikal neuer Zugang

Als Ausweg empfiehlt Mould einen radikal neuen Zugang. Die Kreativität muss vor ihren BlitzverwerterInnen gerettet werden. Wahre Kreativität liefert demnach neue Ideen für eine bessere Entwicklung der Gesellschaft, nicht nur Marketingargumente. Das klingt sympathisch, allerdings auch ein wenig ernüchternd, da nicht besonders konkret. Wenigstens eine Marschrichtung ist damit aber angegeben.

Mindestens so bemerkenswert wie dieses Fazit ist, dass Mould mit seiner kritischen Perspektive auf eine einseitig instrumentalisierte Kreativitätsrhetorik längst nicht allein ist. So hat jüngst der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz gezeigt, dass die Überbetonung des «kreativen Imperativs» zu einer Entwicklung einer «Gesellschaft der Singularitäten» (so der Titel von Reckwitz’ jüngster, breit rezipierter Studie) beigetragen hat, in der es immer schwieriger wird, einen gemeinsamen politischen Nenner zu finden.

Nachdenklich stimmt überdies, dass sich auch Richard Florida, zuletzt in seiner neusten Publikation von 2018, «The New Urban Crisis», den negativen Begleiterscheinungen des Booms der «creative class» zuwendet. Damit trägt er jener Kritik an seinem Werk Rechnung, an die auch Mould erinnert: Die vermeintliche kreative «Klasse» ist gar keine, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn. Daher kann sie sich auch nicht im Sinne einer politischen Klasse formieren und entsprechend agieren.

Florida wirbt vor diesem Hintergrund für einen verantwortungsvolleren, mehr auf Integration und Inklusion bedachten Urbanismus. Jeder, der einmal hautnah die krassesten Auswüchse des Aufstiegs der «creative class» erlebt hat, die Legionen von Obdachlosen auf den Strassen von San Francisco als sichtbare Folge einer gegenüber dem superkreativen benachbarten Silicon Valley zahnlosen Politik, wird nur nicken können.

Oli Mould: Against Creativity. Verso Verlag. London 2018. 256 Seiten. 20 Franken