Abdul Aziz Muhamat: «Ich bin auf Mission hier»

Nr. 10 –

Der sudanesische Flüchtling Abdul Aziz Muhamat war sechs Jahre auf einer Insel in der Nähe von Australien interniert. Nun erhielt er in Genf einen Menschenrechtspreis – und hat am Montag ein Asylgesuch gestellt.

«Sie wollten uns alles Menschliche nehmen und uns in den Wahnsinn treiben. Mir gab es Stärke. Eine Stärke, von der ich zuvor nicht zu träumen wagte»: Abdul Aziz Muhamat in Genf.

Genf, 13. Februar

«Viele im Raum fragen sich wohl, wie ich es nur geschafft habe hierherzukommen.» So beginnt Abdul Aziz Muhamat seine Dankesrede, als er in Genf den Martin Ennals Award für MenschenrechtsverteidigerInnen entgegennimmt. Ein Visum der Schweizer Uno-Mission in Genf ermöglichte ihm die Reise in die Schweiz, denn eigentlich ist Aziz ein Gefangener: Der Flüchtling wird seit sechs Jahren im Rahmen des australischen Asylregimes in einem Lager auf der Insel Manus in Papua-Neuguinea interniert.

In Genf nutzt Aziz das Visum, um DiplomatInnen im internationalen Viertel zu treffen. Er verhandelt mit Botschaften, trifft NGO-VertreterInnen und erzählt seine Geschichte an Universitäten. «Rechtlich gesprochen, ist das, was Sie beschreiben, Folter», reagierte Vincent Chetail, Professor für Internationales Recht, auf Aziz’ Vortrag im Genfer Global Migration Centre.

Aziz stammt aus der Krisenregion Darfur im Sudan. Seine Flucht führte ihn 2013 nach Indonesien, wo er ein Boot Richtung Australien bestieg. Das Festland erreichte er nie; die australischen Behörden internierten ihn erst auf Christmas Island, dann durchlebte er knapp sechs Jahre lang alle Eskalationsstufen des australischen «Offshore detention»-Regimes (Einwanderungshaft) auf Manus Island in Papua-Neuguinea. Seit 2001 werden Flüchtende, die Australien übers Meer erreichen wollen, für unbestimmte Zeit interniert. Bis heute sind um die 1000 Menschen interniert: 400 auf Nauru, über 500 Männer auf Manus; 12 sind in den letzten fünf Jahren gestorben. Aziz hat gesehen, wie die Sicherheitskräfte einen Kurden zu Tode prügelten.

Die australischen Behörden gaben den Menschen Nummern; die von Aziz lautet QNK 002. Anfangs haben sich auch die Flüchtlinge untereinander mit Nummern statt Namen angesprochen. Bereits 2015 erhielt Aziz den Flüchtlingsstatus – an seiner Situation auf der Insel, die so gross wie der Kanton St. Gallen ist, änderte das nichts.

In Genf ist Aziz wegen seines Engagements für die internierten Menschen von Manus, die aus insgesamt sechzehn Nationen stammen. Vor etwa drei Jahren schmuggelte er ein Smartphone, damals ein verbotener Gegenstand, ins Camp und meldete sich bei einer australischen NGO. Es war das erste Mal, dass eine Stimme der Internierten den Kontinent erreichte. In 4500 Whatsapp-Sprachnachrichten beschrieb Aziz einem Journalisten Alltag und Tortur auf Manus. Diese bildeten die Grundlage für den inzwischen international ausgezeichneten Radio-Podcast «The Messenger». Über den Podcast erfährt man nicht bloss Aziz’ Fluchtgeschichte, sondern auch, dass er einen lachenden Frosch als Whatsapp-Profilbild hatte. Heute ist Aziz’ Whatsapp-Profilbild ein Foto vor dem Genfer Palais des Nations.

Alles, was er in den Gesprächen mit DiplomatInnen anwende, habe er auf Manus gelernt. «Dieses Gefängnis sollte uns alles Menschliche nehmen und uns in den Wahnsinn treiben. Mir gab es Stärke. Eine Stärke, von der ich zuvor nicht zu träumen wagte.»

Genf, 27. Februar

«Ich geh nicht hin, Michael, das bringt nichts», sagt Aziz zu Michael Khambatta vom Martin Ennals Award eine halbe Stunde vor einem Termin beim Uno-Flüchtlingskommissariat (UNHCR). Dann geht er trotzdem hin. Hinterher, am frühen Abend, sitzt er in einem Pub, in Papua-Neuguinea ist es 3  Uhr morgens: zwei, drei Stunden, in denen Aziz nicht per Smartphone in Kontakt mit Menschen auf Manus oder in Australien ist. Aziz erzählt, beim UNHCR habe man ihm empfohlen, nicht nach Manus zurückzukehren. Man werde eine Lösung finden. Keine Zusicherung.

Aziz ist erschöpft, seine Tage in Genf sind lang. Aber er will die Erschöpfung nicht zulassen: «Ich bin auf Mission hier.» Seine erste Priorität ist ein Resettlement-Programm – die Möglichkeit, in ein anderes Land weiterzureisen – für alle auf Manus und Nauru Internierten. Die zweite, dass Australien für die Zustände in der Einwanderungshaft von der internationalen Gemeinschaft zur Rechenschaft gezogen wird. Erst an dritter Stelle steht für ihn die Frage, was mit ihm selbst passiert.

Beim ersten Gespräch mit der WOZ eine Woche davor war sich Aziz sicher, dass er nach Manus zurückkehren würde. Da war seine Hoffnung noch gross, dass sich die Gespräche mit den Botschaften lohnen – und sich andere Länder Australien entgegenstellen würden. «Niemand will Ärger mit dieser liberalen Demokratie», sagt er jetzt. Also geht er nicht zurück? Die Frage bleibt offen. Noch stehen Termine an, auf die er sich konzentrieren muss.

Aziz nimmt ein Stück vom Flammkuchen, den Khambatta bestellt hat. Eines reicht ihm. «Ich kann hier nicht viel essen. Sechs Jahre lang habe ich mich so einseitig ernährt, dass mein Magen das nicht aushält.» Aziz sucht ein Foto der immer gleichen Mahlzeiten in einem Kanal des Messengerdiensts Telegram. Die Internierten auf Manus bespielen seit Sommer 2017 einen Telegram-Kanal mit Live-Updates. Behrouz Boochani, ein Freund von Aziz, gewann kürzlich den wichtigsten australischen Literaturpreis – seinem Verlag schickte er das Buch per Whatsapp.

Während Aziz in Genf weilt, überschlagen sich die Nachrichten aus Ozeanien: Das letzte auf Nauru internierte Kind durfte die Insel in Richtung USA verlassen; auch achtzehn Männer können von Manus dorthin übersiedeln. Auf Manus streiken die Sicherheitskräfte, weil bekannt wurde, dass ihre Firma wahrscheinlich in einen Korruptionsskandal verwickelt ist. Einiges liest man auf Telegram, bevor es in der australischen Ausgabe des «Guardian» steht. Viele Menschen auf Manus sind heute «Messenger».

Die australische Regierung habe niemanden, der noch lebe, gebrochen, sagt Aziz: «Die Internierten haben vor zwei Wochen die Regierung im Parlament besiegt! Was brauchten sie dafür? Nichts ausser geschmuggelten Smartphones.» Das Bündnis aus den Menschen auf Manus und australischen AktivistInnen brachte zum ersten Mal seit 1929 ein Gesetz gegen den Willen der Regierung durch – es soll den Internierten Zugang zu adäquater gesundheitlicher Versorgung gewähren.

Aziz sagt, er könne sich psychisch erst von Manus lösen, wenn sich der letzte Internierte an einem sicheren Ort befinde. 550 Männer sind weiterhin auf unbestimmte Zeit dort. Die meisten sind anerkannte Flüchtlinge – aber was passiert mit den 60, die sich dem Asylprozedere verweigerten? Was ist mit den 70, die während ihrer Internierung einen Negativbescheid erhielten? Aziz weiss von dreien, die in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt und dort umgekommen sind.

Genf, 28. Februar

Aziz spricht im Plenum des Uno-Menschenrechtsrats: «Frau Vizepräsidentin, ich möchte Sie dazu einladen, über Ihr Leben während der letzten sechs Jahre nachzudenken. Vielleicht haben Sie einen Job angetreten oder eine Familie gegründet.» Aziz beschreibt seine letzten sechs Jahre. Die Vizepräsidentin bedankt sich ebenso freundlich für das Statement, wie sie es eine Stunde zuvor getan hat, als der australische Repräsentant versicherte, dass sein Land um das Schicksal von MenschenrechtsverteidigerInnen bekümmert ist. «Hier ist nicht mein Platz», sagt Aziz danach in einem Café. Khambatta fragt ihn, was er trinken will. Aziz ist es egal. Er ist unzufrieden mit seiner Rede – obwohl sie zwischen all den technokratischen Voten herausgestochen ist. Er ist wütend, dass Unrechtsregimes im Menschenrechtsrat alle Kritik von sich weisen können.

Zürich, 4. März

Anruf bei Khambatta, der sich vor Stunden melden wollte: «Wir sind unterwegs zum Asylzentrum in Neuenburg.» Gleichzeitig im Telegram-Kanal: Ein Anwaltsteam klagt für die Internierten vor dem höchsten Gericht Papua-Neuguineas. Andere machen vor Ort weiter. Aziz bittet um Asyl in der Schweiz.