Ein Traum der Welt: Körper, Sprache, Haare
Annette Hug stammt plötzlich vom Mittelmeer
Die Kosmetikerin im Asian Beauty Parlour entfernt Flaum oder auch stärkeren Bewuchs der Oberlippe für zehn Franken. Die Behandlung dauert keine fünf Minuten und tut fast nicht weh. Wer eine Weile warten muss, kann sich im Vorzimmer Bollywood-Musikvideos anschauen. Die Kundinnen sind zwar voll bekleidet, aber die bunte Runde lässt doch an «Middlesex» denken, den Roman von Jeffrey Eugenides.
Da ist die Hauptperson auf den Mädchennamen Calliope Helen Stephanides getauft, sie wächst in einer griechischen Familie in Detroit auf. Irgendwann entdecken Ärzte, dass sie beziehungsweise er eine seltene Genvariante aufweist. Cal, wie sich die Hauptperson als Mann nennt, beschäftigt sich dann genauso mit dem Massaker von Smyrna oder Izmir, das seine Grosseltern aus Kleinasien fliehen liess, wie mit dem Wechsel der Geschlechtsidentität. Mir ist vor allem die Szene im Schönheitssalon Golden Fleece in Detroit geblieben. Da liegen zahlreiche Frauen halb nackt herum, unter lauten Scherzen und Schmerzensschreien lassen sie sich Körperhaare wegwachsen.
Die Kosmetikerin im Asian Beauty Parlour an der Kalkbreitestrasse in Zürich rät von Wachs ab. Sie enthaart mithilfe eines Baumwollfadens, den sie zwischen die Hände spannt und verzwirbelt, in rasanten Bewegungen zupft sie so die Härchen aus. Bevor sie in die Schweiz kam, hat sie diese Technik in Sri Lanka in einer Schule gelernt. Wenn sie nun die Vorzüge des Fadenzupfens preist, fügen sich in meiner Vorstellung tamilische Gebiete jener Geografie hinzu, die Jeffrey Eugenides entwirft:
«Neben dem Sonnengürtel oder dem Bibelgürtel gibt es auf dieser unserer mannigfaltigen Erde auch einen Haargürtel. Er beginnt in Südspanien, wo er sich mit dem maurischen Einfluss deckt. Er zieht sich über die dunkeläugigen Regionen Italiens, fast über ganz Griechenland und die gesamte Türkei. Er schwenkt nach Süden, schliesst Marokko, Tunesien, Algerien und Ägypten ein. Auf seinem weiteren Weg (wobei er eine dunklere Färbung annimmt, wie es auf Landkarten der Fall ist, die über Meerestiefen informieren) schliesst er Syrien, den Iran und Afghanistan ein, bevor er in Indien allmählich wieder heller wird. Dann, mit Ausnahme eines einzelnen Pünktchens, das die Ainu in Japan bezeichnet, endet der Haargürtel.»
Weil auch seine griechischen Tanten einen endlosen Kampf gegen Körperhaare führen, fällt Cal lange nicht auf. Mir hätte Eugenides im Gespräch mit ÄrztInnen geholfen, die wiederholt darauf bestanden, Hormontests durchzuführen, weil sie krankhafte Ursachen meiner üppigen Behaarung vermuteten. Da war die Bündner Kosmetikerin cooler, die einfach sagte: «Sie sind ein mediterraner Typ.»
Die binäre Regel «behaart gleich männlich, glatt gleich weiblich» kompliziert sich also, wenn auch die Herkunft bekannter oder unbekannter Vorfahren einberechnet wird. Punkto Sprache ist im Moment das Gendersternchen als Irritation der binären Ordnung in Diskussion. Ich bin noch unschlüssig, ob ich generell ein * setzen soll, um auch Personen zu bezeichnen, die weder «Mann» noch «Frau» sind. Im Beauty Parlour geht mir auf, dass dieses Sternchen auch als Funktionszeichen für die Multiplikation dient: Geschlecht * Haargürtel = keine Hormonstörung. Das wäre wohl ein Argument dafür.
Annette Hug ist Autorin in Zürich und greift hier auf «Middlesex» zurück. Der Roman von Jeffrey Eugenides ist 2004 bei Rowohlt in der deutschen Übersetzung von Eike Schönfeld erschienen.