Recht auf Stadt: Per Enteignung ins Glück
Zehntausende haben am Wochenende gegen explodierende Mieten und die Verdrängung ärmerer Menschen aus den Grossstädten protestiert – vor allem in Deutschland, wo die Wohnungssituation vielerorts prekär ist, aber auch in europäischen Metropolen wie Barcelona, Lissabon oder Amsterdam. Das Recht auf bezahlbaren Wohnraum, das Recht auf Stadt also, ist ein Anliegen, das immer mehr Leute umtreibt. Womöglich kündigt sich hier gar eine kontinentale Bewegung an. Zu wünschen wäre es: In Zeiten, in denen der Autoritarismus auf dem Vormarsch ist, braucht es Druck von unten, um soziale anstelle nationaler Fragen auf die Tagesordnung zu setzen. Ähnlich, wie es die fürs Klima streikenden SchülerInnen vormachen.
Allerdings sehen das nicht alle so: KommentatorInnen von der Berliner «Welt» über das Düsseldorfer «Handelsblatt» bis hin zur hiesigen NZZ sind entsetzt darüber, was die unter hohen Mieten Leidenden da auf den Strassen kundtun; auch bürgerliche PolitikerInnen äussern sich alarmiert. Besonderen Anstoss erregt ein Volksbegehren in Berlin, das die Enteignung grosser Immobilienkonzerne fordert – weil es zuverlässig liberale Beissreflexe aktiviert: Dumm und verantwortungslos sei die Idee, sozialistisch obendrein, und ausserdem vergraule sie potenzielle InvestorInnen (als wären nicht gerade die das Problem). Dabei liesse das deutsche Grundgesetz Enteignungen unter bestimmten Voraussetzungen zu.
Viele in der Bevölkerung scheinen jedoch hellsichtiger als die MeinungsmacherInnen in Medienhäusern und Parteizentralen zu sein: Eine Umfrage von vergangener Woche belegt, dass fast die Hälfte der Deutschen Enteignungen im Immobiliensektor befürworten. Das sollte alle aufhorchen lassen, die argwöhnen, linke Projekte seien nicht massentauglich. Die Kämpfe gegen Verdrängung könnten das Gegenteil beweisen – und eines der politischen Schlachtfelder werden, auf denen die Linke über nationale Grenzen hinweg endlich aus der Defensive kommt.
Die Forderung nach Enteignungen rührt an die heilige Kuh des Liberalismus: Für Liberale ist ja gerade die Institution des Privateigentums die Quelle des gesellschaftlichen Reichtums, weil dieses den Fleissigen garantiert, die Früchte ihrer Hände Arbeit geniessen zu können; erst so würde den Tüchtigen ein Anreiz geschaffen, mehr allgemeinen Wohlstand zu erwirtschaften. Dass diese Wohlfühlstory mit der historischen Entstehung des «freien» Marktes und der noch heute gängigen kapitalistischen Praxis bloss entfernt zu tun hat, lässt sich wahlweise bei Karl Marx oder den Enthüllungen zum Cum-Ex-Steuerskandal nachlesen.
Aufschlussreich ist zudem, dass nicht nur in Sachen Wohnraum die Forderung nach Enteignungen en vogue ist: Auch in der von Monopolen beherrschten digitalen Ökonomie – ebenfalls ein politisch wegweisendes Konfliktfeld – wird immer mal wieder die Vergesellschaftung der IT-Giganten ins Spiel gebracht. Immerhin speist sich ja der Wert, den Plattformen wie Facebook hervorbringen, in erster Linie aus dem Austausch der NutzerInnen, die ihre Ideen miteinander teilen. Aus deren Sicht ist deshalb nicht nachvollziehbar, warum die Netzwerkinfrastruktur privates Eigentum eines Konzerns sein soll, der aus ihren Interaktionen Daten extrahiert und dann mit mehr oder weniger dubiosen Methoden verwertet. Eine Plattform im Besitz aller wäre hier eine auf der Hand liegende Alternative.
Das Gleiche gilt für das analoge Netzwerk namens Stadt: Auch die Attraktivität einer Metropole verdankt sich der Vielfalt an Menschen, die dort gemeinsam leben und tätig sind. Diese produktive Pluralität macht die Stadt politisch und kulturell verlockend für alle, die der Enge der Provinz entfliehen wollen. Genau dies jedoch beuten die Immobilienkonzerne nicht nur aus, sondern sie zerstören die Diversität sogar, indem sie den urbanen Raum in sterile Konsumzonen für die Vermögenden verwandeln. Es gibt also Gründe genug, die alte Frage neu aufzuwerfen, wer hier eigentlich den Mehrwert schafft – und wer sich bloss bereichert.