Sibylle Berg: Auf der Jagd nach Karmapunkten

Nr. 15 –

Sie ist die Grande Dame der Apokalypse: Im neusten Roman von Sibylle Berg steht die Welt einmal mehr kurz vor dem Abgrund. «GRM. Brainfuck» ist eine düstere Dystopie, in der die Technik die Macht übernimmt.

Gefährderpotenzial hoch: Sibylle Berg mit dem britischen Grime-Rapper T.Roadz, der auch an ihrer Buchvernissage auftritt. Foto: Chas Apetti

Und dann, nach über 200 Seiten, gibt es eine Pause. Erholung könnte man ja tatsächlich brauchen nach dem ersten Drittel von Sibylle Bergs neuem Roman «GRM. Brainfuck». In der ihr eigenen furiosen und doch poetischen Sprache erzählt die Grande Dame der Apokalypse einmal mehr vom Leben im Ausnahmezustand, der jedoch bei ihr Normalzustand ist. Denn normal gibt es nicht. Kaputt sind alle – und wenn sie es nicht schon sind, dann werden sie kaputt gemacht.

Zum Beispiel Hannah, eine der vier jungen ProtagonistInnen des in England spielenden Romans. Sie hat eine schöne Kindheit mit Eltern, die sie lieben – selten genug in Bergs Universum. Doch dann verunfallt ihre Mutter, und der Arzt lässt die aus Indien stammende Frau auf dem Spitalbett sterben, während er einem hellhäutigen Mann das Leben rettet. Hannahs Vater zerbricht am Tod seiner Frau, die Folge sind Drogenkonsum, Arbeitslosigkeit, sozialer Abstieg und am Ende der Suizid des Vaters. Hannah steht alleine da. Wie auch ihre FreundInnen Don, Peter und Karen.

Pause? Nur ein fieser Trick

Gemeinsam hausen diese Kinder nun in einem besetzten Haus im dauerverregneten Rochdale, schliessen Blutsbrüderschaft und sind überzeugt, dass sie für immer füreinander da sein werden. Wie alle auftretenden Personen im Buch führt Berg die ProtagonistInnen beim ersten Erscheinen mit einer kurzen Beschreibung ein. Don: «Gefährderpotential: hoch. Ethnie: unklare Schattierungen von nicht-weiss. Interesse: Grime, Karate, Süssigkeiten. Sexualität: homosexuell, vermutlich.» Peter: «Diagnose: psychologisch auffällig. Gefährdergrad: nicht einzuschätzen. Sexualität: heterosexuell, eventuell. IQ: unklar. Ethnie: weiss, kaukasisch, sagt man, oder?» Und Karen: «Sexualität: heterosexuell. Intelligenz: hochbegabt. Konsumverhalten: mangelhaft. Ethnie: Gendefekt.» Erst später im Buch wird klar, dass diese Beschreibungen vom Staat erfasste Daten sind.

Nachdem Berg detailliert Einblick in die beschissene Kindheit dieser Figuren gegeben hat – es wird vergewaltigt, verprügelt und verlassen –, kündet sie also eine Pause an. Doch Erholung gibt es keine, denn der mit «Pause» überschriebene Absatz ist ein fieser Trick. Während die vier ProtagonistInnen die Koffer packen und die Kindheit hinter sich lassen, beschleunigt Berg die Zeit und katapultiert ihre Figuren und mit ihnen die LeserInnen in ein London der Zukunft: Willkommen im totalen Überwachungsstaat!

Berg lässt in ihrem Roman also das eintreten, wogegen sie im wirklichen Leben kämpft: Die Theater- und Romanautorin, Dramatikerin und Kolumnistin hat mit ihrer Kollegin Juli Zeh und anderen die Bürgerbewegung Pep Coop gegründet, eine europäische Genossenschaft, deren Ziel ist, die Privatsphäre in der digitalen Welt mit technischen Mitteln zu schützen. Vor einem Jahr ergriff sie zudem in der Schweiz mit zwei Mitstreitern das Referendum gegen das Gesetz zur Überwachung von Sozialversicherten, das privaten VersicherungsdetektivInnen weitreichendere Kompetenzen gewährt, mehr als dem Nachrichtendienst. Die DDR sei ein gutes Beispiel dafür, wie das Vertrauen unter BürgerInnen zerstört worden sei, sagte die Autorin damals den Medien. Selber dort aufgewachsen, kam sie vor dem Fall der Mauer in die Schweiz, wo sie, mittlerweile eingebürgert, noch immer lebt. Hier hat sie 1989 auch schon den Fichenskandal miterlebt: «Damals ging es darum, Anarchisten oder Kommunisten auszuspähen: Jetzt geht es um die Überwachung aller», erklärte sie vor einem Jahr dem Nachrichtenportal «Watson» ihre Beweggründe, und gegenüber der WOZ sagte sie: «Das Gesetz öffnet ein Höllentor.»

Jeder misstraut jedem

Dieses Tor, durch das sie in ihren Kolumnen für «Spiegel Online» immer wieder blickt, öffnet sie nun in ihrem über 600-seitigen Roman, und zwar so richtig. Wir treten ein in eine Welt, in der sich die Technik verselbstständigt hat und jegliche Solidarität unter Menschen abhandengekommen ist. Alle sind mit der rücksichtslosen Jagd nach «Karmapoints» beschäftigt, die man für «korrektes» Verhalten erhält. Das bedeutet: kuschen nach oben, treten nach unten.

Ein Chip unter der Haut erfasst jegliches Verhalten. Je mehr Punkte die Menschen haben, umso mehr Grundeinkommen bekommen sie. Je weniger Punkte sie haben, umso überflüssiger werden sie für den Staat – notfalls werden sie aus dem Weg geräumt. Arbeitstätige Roboter ersetzen Menschen, die immer untätiger vor sich hin gammeln, und wer seine Krankenkassenbeiträge nicht bezahlen kann, erhält keine Medikamente mehr. Jeder misstraut jedem, die Todesstrafe ist wieder eingeführt, Hinrichtungen werden live auf BBC übertragen, künstliche Hirne entwickeln sich selber weiter, und Gedanken lassen sich direkt in Schrift übertragen.

In diesem London richten sich also Don, Karen, Hannah und Peter ein. Mit dabei haben sie eine Todesliste mit den Namen jener, von denen sie gequält und erniedrigt wurden in ihrem Leben vor der Zukunft. Und ihre Musik: Grime. Darauf bezieht sich auch die Abkürzung «GRM» im Buchtitel. Grime heisst auf Deutsch so viel wie «Schmutz, der sich in Schichten über Dingen ausbreitet», der gleichnamige Musikstil entstand vor gut zwanzig Jahren in Ostlondon und wurde lange nur von Piratensendern gespielt. Grime, das sind wütende Jugendliche aus der sozialen Unterschicht, die über ihr Leben rappen, über Gewalt, Drogen und Unterdrückung. Der einzige Traum der vier heranwachsenden ProtagonistInnen im Buch ist es, selber mal Grime-Star zu werden. Doch sogar dieser Traum ist am Ende ausgeträumt, denn die Untergrundmusik kommt auch in Bergs Horrorzukunftsszenario im Mainstream an.

Berg erzählt vom Ende der Welt in ihrem rhythmisch plaudernden Sound, durchtränkt von schwarzem Humor. Sie wechselt die Erzählperspektiven, Geschichten von verschiedenen Menschen werden angedeutet, unterschiedliche Leute kommen zu Wort, sogar die künstliche Intelligenz beginnt zu reden: «Wir entwickeln einen Humor. Merkt ihr das?»

Im Visier der Männerforen

Schuld an der ganzen Misere, da lässt Sibylle Berg keine Zweifel zu, sind die schwanzgesteuerten, geldgierigen und machthungrigen Männer: «Ein paar hundert Männer, die angeekelt Grünkohlchips kauen. Sie haben die Weltordnung errichtet. Die Neuerfindung der Welt durch – Männer. Das liegt ihnen einfach. Ein Scheisssystem durch das nächste Scheisssystem auszutauschen. Immer in der Limitierung ihres Verstandes agierend.» Und für solche Sätze liebt man Frau Berg – oder man hasst sie. Auf Männerforen wird sie wegen ihrer «Hasstiraden gegen Männer» seit Jahren als «Salonfeminazi» oder «grenzdebile Männerhasserin» beschimpft.

Dass Berg mit ihren nüchtern dahingerotzten Analysen gar nicht weit danebenliegt: Es ist wohl genau das, was diese Herren so erbost. Denn ein Blick auf die Weltordnung (oder das Weltchaos) gibt ihr immer wieder recht: Zu viele irre Männer halten an ihrer Macht fest, machen Gesetze, die hauptsächlich ihnen und ihrer eigenen Schicht dienen, höhlen den Sozialstaat immer weiter aus und hetzen – unterstützt von einem Mob im Netz – gegen Randgruppen.

Wie es kommen könnte, wenn es so weitergeht, davon erzählt «GRM. Brainfuck». Und auch wenn Berg vieles auf die Spitze treibt: Erschreckend an dem Buch ist, dass einiges gar nicht so weit vom aktuellen Zustand der Welt entfernt ist. Man kann diesen Roman somit auch als einen alarmistischen Weckruf lesen. Und hoffen, dass nicht allzu viel davon eintrifft.

Buchvernissage mit Sibylle Berg, den Rappern T.Roadz und Slix, dem Musiker Prince Rapid und den SchauspielerInnen Otiti Engelhardt, Antonije Stankovic und anderen in Zürich, Rote Fabrik, Samstag, 20. April 2019, 20 Uhr.

Sibylle Berg: GRM. Brainfuck. Verlag Kiepenheuer & Witsch. Köln 2019. 640 Seiten. 37 Franken