Wohnpolitik: Alt werden, aber bunt bleiben

Nr. 18 –

In Berlin-Charlottenburg bietet der «Lebensort Vielfalt» ein Wohnangebot für queere SeniorInnen. Auch in Zürich ist ein solches Projekt in Planung – doch die Stadt stellt sich quer.

Klaus Becker (76) geniesst es, zentrumsnaher zu wohnen im «Lebensort Vielfalt».

Im Türrahmen von Klaus Beckers Wohnung hängt ein kleiner Kalender, alle vergangenen Tage sind mit Kreuzen markiert. «Für jeden Morgen, an dem ich noch lebendig aufstehe, mache ich ein Kreuz», sagt der 76-Jährige und lacht. «Ist doch schön, dass ich das noch kann!» Becker lebt im «Lebensort Vielfalt» in Berlin-Charlottenburg, einem Alterswohnheim für schwule Männer und lesbische Frauen. 24 Privatwohnungen und eine Wohngemeinschaft mit einem Rund-um-die-Uhr-Pflegedienst beherbergt das Haus an der Niebuhrstrasse mit der hellrosa Fassade und dem grossen Garten, das sich nahtlos ins ruhige Quartier einfügt. Im Erdgeschoss befinden sich eine Schwulenberatung, die Bibliothek Andersrum – eine der bundesweit grössten Leihbibliotheken für queere Literatur – und der Treffpunkt und Veranstaltungsort Wilder Oscar.

Nicht Tag für Tag aufs Neue outen

Warum braucht es spezielle Wohnangebote für queere SeniorInnen? Marco Pulver von der Schwulenberatung Berlin erklärt: «Viele Schwule leben im Alter zurückgezogen, haben sogar Angst davor, in ein herkömmliches Altersheim zu ziehen.» Oft sei das Pflegepersonal nicht entsprechend sensibilisiert auf den Umgang mit queeren Menschen. Das könne dazu führen, dass sich Schwule und Lesben im Altersheim Tag für Tag aufs Neue outen und sich mit ihrer sexuellen Identität auseinandersetzen oder sie gar verschweigen müssten, sagt Pulver.

1998 eröffnete die Schwulenberatung Berlin in Deutschland die erste therapeutische Wohngemeinschaft für schwule Männer mit psychischen Beeinträchtigungen, ein Jahr später folgte bereits die zweite und 2001 die erste Wohngemeinschaft für suchtkranke schwule Männer. Knapp neun Jahre später begann der Umbau des Hauses in Berlin-Charlottenburg zum «Lebensort Vielfalt». «Bis dahin war es ein langer Weg», sagt Pulver. Bereits 2003 gründete die Schwulenberatung Berlin das Netzwerk Anders Altern und initiierte einen wöchentlichen Gesprächskreis, wo die Idee eines Wohnhauses für ältere Schwule entstand. Die Suche nach GeldgeberInnen dauerte gut fünf Jahre, zu den prominentesten UnterstützerInnen gehörten die deutsche Kabarettistin Gabi Decker und der damalige Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit. Im Frühling 2012 zogen die ersten Mieter an der Niebuhrstrasse ein.

Gentrifizierung als Hindernis

Auch in der Schweiz kämpft ein Verein für queerfreundliches Wohnen im Alter – allerdings seit Jahren erfolglos. Der Zürcher Verein Queer Altern will das ändern – und macht Druck auf die Stadtregierung: Im Januar organisierte die Gruppe eine Demonstration vor dem Zürcher Rathaus. «In der Schweiz sind derzeit achtzehn Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre alt, also schätzungsweise 1,4 Millionen Menschen. Wenn man der konservativen Annahme folgt, dass davon fünf Prozent queer sind, dann reden wir von mindestens 60 000 Menschen», sagt Vincenzo Paolino, Präsident des Vereins mit 170 Mitgliedern.

Analog zum Berliner «Lebensort Vielfalt» plant auch der Zürcher Verein ein Mehrgenerationenhaus mit Wohnungen und kulturellem Angebot: «Wir wollen, dass nicht bloss ältere Queers dort wohnen, sondern auch Jüngere aus der Community.» Der Verein sucht zurzeit ein Haus für zwanzig bis dreissig Alterswohnungen sowie zwei Pflegewohngruppen – bisher vergeblich. «Wir scheitern immer wieder am Kaufpreis von potenziellen Objekten. Das ist in Zürich ein wirklich grosses Problem», sagt Paolino.

Nachbar Bernd Gaiser (74) initiierte einst den Berliner Christopher Street Day.

Die Wohnungen sollen auch für Menschen mit kleinem Budget erschwinglich sein, der Verein ist also auf günstige Konditionen angewiesen: «Eine 1,5-Zimmer-Wohnung soll nicht mehr als 1100 Franken kosten, damit sie sich auch Menschen leisten können, die etwa Ergänzungsleistungen zur AHV erhalten.» Spätestens nach einem Besuch im «Lebensort Vielfalt» vor ein paar Jahren war für Paolino klar, «dass man auch in Zürich vorwärtsmachen muss».

Die SVP vertagt

Die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch lebt selber offen lesbisch, liess ihre Partnerschaft eintragen und spricht sich auch immer wieder öffentlich für die LGBTIQ*-Community aus. Doch an materieller Unterstützung aus dem Zürcher Rathaus für entsprechende Projekte fehlt es derzeit noch.

Im Gemeinderat sind momentan immerhin verschiedene Vorstösse dazu hängig: Anfang Januar legten Markus Baumann (GLP) und Marco Denoth (SP) dem Stadtrat ein Postulat vor, der prüfen soll, inwiefern die neue Altersstrategie der Stadt die Bedürfnisse queerer Menschen berücksichtigt. Zusammen mit Brigitte Fürer (Grüne) hat Denoth ein weiteres Postulat eingereicht: Demnach soll der Stadtrat ein Wohnprojekt für ältere LGBTIQ*-Menschen prüfen. Und Mitte März folgte ein drittes Postulat von Elisabeth Schoch und Marcel Müller (beide FDP). Sie fordern die «Vermittlung eines Objekts für den Verein Queer Altern durch die Stiftung PWG» – die städtische Stiftung soll günstigen Wohnraum fördern. Aktuell sind die drei Geschäfte vertagt, die SVP beantragt deren Ablehnung. Fraktionschef Roger Bartholdi hält es für «nicht zielführend, die Betroffenen in separaten Heimen» unterzubringen «und sie dadurch auszugrenzen».

Queer Altern suchte daraufhin das Gespräch mit Andreas Hauri (GLP), dem Zürcher Stadtrat und Vorsteher des Gesundheits- und Umweltdepartements – und könnte schon bald die nötige Unterstützung auf der Zielgeraden erhalten. «Der Bedarf ist ganz klar da», sagt Paolino. «Sollte das Projekt zustande kommen, wären bereits genügend Menschen aus unserem Verein und darüber hinaus an einer Wohnung interessiert.» Und auch die queere Jugend solidarisiert sich – nicht zuletzt aus Eigeninteresse: An der Demonstration vor dem Zürcher Rathaus war auch die Milchjugend vertreten, die Schweizer Jugendorganisation der LGBTIQ*-Community. «Wenn wir alt und bunt sind, brauchen wir immer noch queere Räume. Ein queeres Altersheim für die Zürcher Queers!», schrieb der Vorstand unter einem Foto der Demonstration auf Instagram. Junge und alte Queers in der Schweiz sind sich also einig: An Nachwuchs für LGBTIQ*-Altersheime mangelt es sicherlich nicht.

LGBTIQ*-Siegel für Altersheime

Zurück in Klaus Beckers Wohnung in Berlin. Seit Mai 2015 lebt er hier. Die drei grosszügig geschnittenen Zimmer gehen auf den Garten hinter dem Haus, das Bad ist bereits barrierefrei gebaut, «man weiss ja nie». Seine alte Wohnung hatte nicht einmal einen Lift. «Vorher lebte ich ein bisschen weit weg, ich wollte wieder ins Zentrum, Leute um mich herum haben», sagt er. Hier kennt er alle seine NachbarInnen persönlich, die Menschen würden motiviert, etwas zu unternehmen, «im Gegensatz zu herkömmlichen Seniorenheimen». Becker war einer derjenigen, die damals an den wöchentlichen Gesprächskreisen der Schwulenberatung teilgenommen hatten.

Das Interesse am «Lebensort Vielfalt» sei so gross, sagt Marco Pulver von der Schwulenberatung Berlin, dass aktuell keine neuen BewohnerInnen aufgenommen werden könnten. Das Angebot wird aber vergrössert: 2018 entschied die Stadt Berlin, dass die Schwulenberatung eine Liegenschaft am Berliner Südkreuz kaufen darf. In diesem Gebäude wird es 69 Wohnungen für bi- und homosexuelle SeniorInnen, ältere Trans- und Intersexuelle sowie eine LGBTIQ*-Pflegewohngemeinschaft geben. Zudem sind Wohnungen für Jüngere, zwei therapeutische Wohngruppen für geflüchtete Queers und Sozialwohnungen vorgesehen. Darüber hinaus plant die Schwulenberatung in der neuen Liegenschaft eine Kita, ein Kiezzentrum und Büroräume.

Und auch herkömmliche Altersheime sollen die Möglichkeit haben, sich queerfreundlich weiterzuentwickeln. «Aus diesem Grund haben wir das ‹Lebensort Vielfalt›-Qualitätssiegel entwickelt», erklärt Pulver. Diese Auszeichnung vergibt die Schwulenberatung an jene Pflegeeinrichtungen, die sich nachweislich bemühen, die sexuelle Identität der BewohnerInnen zu berücksichtigen. Das Siegel beinhaltet 120 Kriterien, etwa eine Hausordnung, die einen diskriminierungsfreien Umgang mit LGBTIQ*-Menschen sicherstellt, oder eine Strategie, um Mobbing seitens der Angestellten entgegenzuwirken.

Einer von Beckers NachbarInnen ist Bernd Gaiser. Der 74-Jährige gehörte im Mai 2012 zu den ersten VertragsunterzeichnerInnen im «Lebensort Vielfalt». 1979 hatte er den Christopher Street Day in Berlin initiiert. In seiner Maisonettewohnung mit Galerie steht der Soul of Stonewall Award, eine Auszeichnung für sein Lebenswerk, fast schon unscheinbar im deckenhohen Bücherregal neben Romanen von James Baldwin und Kunstbänden von Robert Mapplethorpe.

Auch für Gaiser hat das Wohnangebot für Queers eine klare Dringlichkeit. Vor seinem Einzug arbeitete er einige Jahre im «Mobilen Salon» der Schwulenberatung Berlin, einem kostenlosen Besuchsdienst für schwule und bisexuelle Männer, die aufgrund ihres Alters nicht mehr so mobil sind und denen die Besuche von FreundInnen und Bekannten fehlen. «Damals habe ich einen 85-Jährigen mehrere Jahre lang regelmässig besucht, das war so auch in der Patientenakte seines Seniorenheims vermerkt. Als er das eines Tages gesehen hat, war er derart erschrocken, dass er darauf bestanden hat, dass dieser Vermerk aus seiner Akte gelöscht wird. Weil er sich so geschämt hat, er könnte vor seinen Mitbewohnern aus Versehen geoutet werden. Mit 85 Jahren. Das muss man sich einmal vorstellen.» Heute organisiert Gaiser Lesepartys in der Bibliothek im Erdgeschoss, die für alle offen sind.

Queer Altern organisiert gemeinsam mit der Zürcher Fachstelle für Gleichstellung ein Podiumsgespräch zum Thema «Lesben-, Schwulen- und Transfeindlichkeit: Wie sind alte Menschen betroffen?».

Zürich, Kosmos, Lagerstrasse 104, Donnerstag, 16. Mai 2019, 18 Uhr.