Kommentar zur Schweizer Europapolitik: Wieder in der Spur

Nr. 21 –

Der Bundesrat will mit sozialen Massnahmen die Initiative der SVP gegen die Personenfreizügigkeit bekämpfen. Das ist ein guter Anfang, um die Europapolitik neu zu ordnen.

Vor PolitikerInnen, die gerne mit Metaphern hantieren, muss gewarnt werden. Das bestätigt der Fall von FDP-Aussenminister Ignazio Cassis. Bereits vor seiner Wahl in den Bundesrat kündigte er an, in der Europapolitik einen Reset-Knopf drücken zu wollen. Merke: Wir beginnen von vorne! Als er hundert Tage im Amt war, baute er das Rahmenabkommen mit Bauklötzen nach. Siehe: Es ist eine wacklige Angelegenheit. Nach eineinhalb Jahren Europapolitik, in denen Cassis gegenüber der EU den Lohnschutz faktisch preisgab, musste er immerhin nicht mehr selbst den legendären Scherbenhaufen zitieren.

Statt Cassis traten letzte Woche seine Parteikollegin Karin Keller-Sutter und SP-Bundesrat Alain Berset vor die Presse. Die beiden präsentierten zwar nur ein Programm zur «Förderung des inländischen Arbeitskräftepotenzials», das vor allem ältere Menschen auf dem Arbeitsmarkt besser schützen soll. So sperrig der Titel klingt, so gross ist aber die Tragweite. Das Geschäft ordnet die Europapolitik neu, zeitlich wie inhaltlich.

Zeitlich, weil der Bundesrat das Programm als direkte Antwort auf die sogenannte Begrenzungsinitiative der SVP versteht. Er erklärt damit ihre Bekämpfung für vordringlicher als den Abschluss eines möglichen Rahmenabkommens. Die Initiative der SVP fordert die Aufkündigung der Personenfreizügigkeit und stellt damit den bisher massivsten Angriff der RechtspopulistInnen auf das bilaterale Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU dar. Bereits im Herbst kommt die Initiative ins Parlament, nächstes Jahr an die Urne. Bei ihrer Annahme wäre jede Diskussion über ein Rahmenabkommen obsolet.

Inhaltlich wird die Agenda neu ausgerichtet, weil erstmals wieder eine aussenpolitische Abstimmung mit sozialpolitischen Fortschritten verknüpft wird. Das war bis 2014 bei der Entwicklung des bilateralen Weges die Regel. Doch dann glaubten die Wirtschaftsverbände und die Bürgerlichen, sie könnten die SVP-Initiative gegen eine angebliche «Masseneinwanderung» ohne Zugeständnisse zum Schutz der Beschäftigten gewinnen. Die Einschätzung endete im Desaster, weil insbesondere die Mehrheit der über 55-Jährigen für die Initiative stimmten.

Das Programm, das der Bundesrat nun beschlossen hat, wäre schon damals dringend nötig gewesen. Der wichtigste Punkt besteht darin, dass ausgesteuerte Arbeitslose, die älter als sechzig sind, eine Überbrückungsrente bis zur Pensionierung erhalten. Ihnen bleibt so der Bezug von Sozialhilfe erspart. Die Kosten für das neue Sozialwerk werden anfänglich pro Jahr auf hundert Millionen Franken geschätzt. Kritisch kann man einwenden, dass die Allgemeinheit die Kosten von Unternehmen trägt, die älteren Beschäftigten kündigen. In den Gesprächen zwischen den Wirtschaftsverbänden und den Gewerkschaften, die dem Entscheid des Bundesrats vorausgingen, drangen Letztere mit ihrer Forderung nach einem Kündigungsschutz für ältere Beschäftigte aber nicht durch. Dieser wäre weiterhin sinnvoll, um die Unternehmen in die finanzielle Verantwortung zu nehmen.

In den weiteren Punkten orientiert sich das Programm unkompliziert an den sozialen Realitäten einer sich wandelnden Arbeitswelt und einer migrantischen Gegenwart: Beschäftigte über vierzig Jahre sollen sich in den Kantonen kostenlos zu ihrer Laufbahn beraten lassen können. Personen, die als Erwachsene in die Schweiz eingewandert sind, sollen vereinfachten Zugang zu einer Vorlehre erhalten. Betriebe, die geflüchtete Personen einarbeiten, bekommen finanzielle Unterstützung.

Die skizzierte Neuausrichtung der Europapolitik ist eine vorläufige Niederlage für Ignazio Cassis und die SVP-Bundesräte. Ein Rahmenabkommen in der vorliegenden Form, das den Lohnschutz schwächt, ist damit noch nicht vom Tisch. Aber offensichtlich ist im Bundesrat dank der neu gewählten Frauen Karin Keller-Sutter und Viola Amherd eine Mehrheit der Meinung, dass es eine aussenpolitische Öffnung nur mit sozialer Absicherung gibt. Man stelle sich rückblickend vor, die medial viel geschmähten Gewerkschaften und die SP hätten in den letzten Monaten gegenüber Cassis und den neoliberalen Hardlinern in der FDP und bei Economiesuisse die Nerven verloren.