Repression in China: Verhaftet, verhört, verschwunden
Immer härter geht Beijing gegen RegimegegnerInnen, NGOs und BetreiberInnen unabhängiger Medienportale vor. In der chinesischen Linken sind rege Debatten über die richtige Strategie entbrannt.
Wie der chinesische Staat mit Widerspruch umgeht, zeigte sich einmal mehr in den vergangenen Monaten: Seit Mai haben die Sicherheitskräfte ein Dutzend Mitglieder linker Netzwerke verhaftet. Insgesamt wurden seit Mitte 2018 über hundert Personen festgenommen oder «verschwanden» einfach.
Ausgangspunkt der jüngsten Repressionswelle war ein Protest bei der Schweissgerätefabrik Jasic Technology in der südchinesischen Stadt Shenzhen vor einem Jahr. Die Protestierenden forderten bessere Arbeitsbedingungen für die tausend Beschäftigten und ein Ende willkürlicher Entlassungen. Als sie eine betriebliche Gewerkschaft gründen wollten und zehn Prozent der ArbeiterInnen hinter sich brachten, reagierte die Firma mit weiteren Entlassungen und die Polizei mit Festnahmen. Nach mehreren Demonstrationen vor der örtlichen Polizeistation wurden dreissig weitere Personen verhaftet.
Auf linken Medienportalen wurde der Fall breit diskutiert und löste eine Welle der Unterstützung aus – vor allem von maoistischen StudentInnengruppen. Etliche AktivistInnen fuhren selbst nach Shenzhen und organisierten weitere Proteste, woraufhin Dutzende von ihnen verhaftet wurden.
Neues Interesse für Arbeitskämpfe
Kämpfe gegen schlechte Arbeitsbedingungen sind in China nicht unüblich, genauso wenig die Entlassung von AktivistInnen. Der Fall Jasic ist jedoch aussergewöhnlich: weil so viele StudentInnen die Proteste unterstützten – und der Staat mit überaus harter Repression reagierte.
Seit der WanderarbeiterInnenstreik in einer Honda-Fabrik im südchinesischen Foshan im Jahr 2010 grosse Lohnzugeständnisse erwirkte und eine Welle weiterer Streiks auslöste, interessieren sich linke StudentInnen in China wieder mehr für Arbeitskämpfe. In den vergangenen zehn Jahren haben immer mehr von ihnen an maoistischen Studienkreisen und Unterstützungsgruppen teilgenommen. Einige arbeiten sogar selbst in Fabriken, um den Kampf voranzutreiben. Bei der Jasic-Kampagne waren sie nun in der Lage, ihre organisatorische Stärke zu nutzen.
Der chinesische Staat griff zwar auch früher schon hart gegen Liberale, MenschenrechtsanwältInnen und Personen durch, die in Tibet oder der UigurInnenregion Xinjiang des Widerstands verdächtigt wurden. Linke AktivistInnen waren dagegen meistens toleriert worden, solange sie die Kommunistische Partei (KPCh) nicht direkt kritisierten. Doch das hat sich inzwischen geändert. Im März 2015 verhaftete die Polizei mehrere Feministinnen, die gegen sexuelle Belästigung protestieren wollten; und im Dezember des gleichen Jahres wurden etliche AktivistInnen festgenommen, die in Südchina Streiks unterstützt hatten.
Die aktuelle Repressionswelle geht aber noch weiter: In den letzten zwölf Monaten wurden viele linke AktivistInnen zeitweise festgehalten, verhört oder bedroht und über hundert verhaftet – nicht nur Leute der Jasic-Kampagne, sondern auch anderer Unterstützungsgruppen, von NGOs und linken Medien. Beinahe fünfzig sind weiterhin in Haft, etliche an unbekannten Orten. Manche wurden von der Strasse weg entführt oder in sogenannten Programmen der Residential Surveillance at a Designated Location (RSDL) untergebracht – einer Art geheimem Gefängnissystem, in dem Personen bis zu sechs Monate festgehalten werden können. Einige mussten öffentlich erzwungene Geständnisse ablegen, die an Schauprozesse aus der Zeit Maos erinnern. Wer wieder frei ist, wird weiter überwacht und kann nicht offen über seine Erfahrungen sprechen.
Unter den bis heute Inhaftierten sind etwa der Jasic-Arbeiter Yu Juncong und die ehemalige Studentin Shen Mengyu. Juncong war wegen des Versuchs, eine Betriebsgewerkschaft zu gründen, entlassen und dann verhaftet worden. Mengyu, die selbst in einer Autoteilefabrik gearbeitet hatte, unterstützte nach ihrer Entlassung die Jasic-Kampagne – und soll daraufhin von Unbekannten in ein Auto gezerrt worden sein. In Haft befindet sich zudem auch der Aktivist Zhang Zhiru, der sich seit Jahren in Südchina für ArbeiterInnen einsetzt.
Linke Gruppen und NGOs wie das China Labour Bulletin aus Hongkong haben die Verhafteten öffentlich unterstützt, ausländische Medien wie die «Financial Times» und Reuters berichteten ebenfalls. In China selbst ist der Raum für die Unterstützung eng geworden, wie der Fall von Wei Zhili zeigt, dem Mitherausgeber des Blogs «iLabour». Er war im März verhaftet worden, nachdem er öffentlich WanderarbeiterInnen unterstützt hatte, die sich auf einer Baustelle tödliche Staublungen zugezogen hatten und Entschädigungen verlangten. Seine Partnerin Zheng Churan – eine der 2015 verhafteten Feministinnen – wollte eine Kampagne für seine Freilassung organisieren, wurde jedoch gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen, ihre Konten in den chinesischen sozialen Medien wurden gesperrt. Um der Zensur zu entkommen und Unterstützung zu organisieren, nutzt sie nun Facebook und Twitter, die allerdings beide in China geblockt sind.
Strukturelle Wirtschaftsprobleme
Die Gründe für die harte Repression sind in der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Situation zu suchen, der sich das Regime gegenübersieht. Die Wirtschaft verändert sich rasant, auch weil die Regierung die Abhängigkeit von Exporten und Industrien mit niedriger Wertschöpfung abbauen will. Tatsächlich ist die Bedeutung von Exporten zurückgegangen und die des inländischen Konsums gestiegen. Staatliche Konjunkturprogramme drohen jedoch die strukturellen Probleme der Wirtschaft zu verstetigen.
Investitionen werden oft von staatlichen Banken finanziert und von staatlichen Firmen umgesetzt, sie sind immer noch die wichtigste ökonomische Antriebskraft. Ohne staatliche Anschübe würde die Wirtschaft kaum wachsen, was auch für die Weltwirtschaft problematisch ist. Chinas Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat im zweiten Quartal 2019 lediglich um 6,2 Prozent zugelegt – der niedrigste Wert seit Jahrzehnten. Die Gesamtschulden entsprachen im letzten Jahr 300 Prozent des BIP (nach 180 Prozent im Jahr 2007). Die Fähigkeit der Regierung, auf Krisen mit staatlichen Konjunkturprogrammen zu reagieren wie nach der globalen Finanzkrise vor elf Jahren, ist heute also eingeschränkt. Der Handelskrieg mit den USA verschärft die wirtschaftlichen Probleme weiter und setzt vor allem die chinesische Industrie unter Druck.
Im vergangenen Jahrzehnt haben Arbeitskräfteknappheit und ArbeiterInnenproteste zu Lohnsteigerungen geführt – was Chinas Status als Billiglohnland zunehmend infrage stellte. Während die Anzahl der Streiks seit einigen Jahren stagniert, waren einige Kämpfe der letzten Zeit von neuen Faktoren wie einer überregionalen Koordination geprägt. Viele ArbeiterInnen leiden nun aber unter Unterbeschäftigung sowie Fabrikschliessungen und -verlagerungen, wie jüngste Kämpfe gegen ausstehende Lohnzahlungen und für Abfindungen zeigen. Ein grösserer Wirtschaftseinbruch könnte zu neuen sozialen Forderungen und Kämpfen führen, wenn der Staat ihn nicht abfedern kann.
Seit Xi Jinping 2012 an die Macht kam, hat die KPCh-Führung versucht, Proteste und Widerstand zu unterdrücken, ihre Fähigkeiten im Krisenmanagement zu verbessern und die Staatsmaschinerie effizienter zu machen. Im Rahmen ihrer Antikorruptionskampagne in Partei- und Staatsorganen wurden mehr als eine Million Kader abgemahnt, degradiert oder inhaftiert. In den Unternehmen sind seither mehr KPCh-Zellen geschaffen worden, die Befolgung der Parteilinie wird in Bildungseinrichtungen und den Medien nun strikter durchgesetzt, und der Einsatz von Überwachungstechnologien sowie die staatliche Zensur sind ausgedehnt worden. Die Unterdrückung der muslimischen UigurInnen, die als separatistische und terroristische Bedrohung gesehen werden, erscheint zudem als Labor noch schärferer Überwachung und Repression, die der ganzen Bevölkerung bevorstehen könnte.
Gegen die Staatsmaschinerie
In dieser Situation will die KPCh-Führung potenziell explosive Vorkommnisse vermeiden. Eine Mobilisierung wie die rund um die Jasic-Fabrik wird für bedrohlich gehalten, Militanz und provokante Aktionen linker AktivistInnen alarmieren das Regime zusätzlich.
Die jüngste Repressionswelle hat in der chinesischen Linken eine lebhafte Strategiedebatte ausgelöst. Auf Onlineblogs werden die hinter der Kampagne stehenden MaoistInnen aus anderen Strömungen heraus kritisiert, weil sie trotz schwacher Unterstützung der ArbeiterInnen die Gründung einer Betriebsgewerkschaft durchsetzen wollten und so den Kampf um die Schweissgerätefabrik eskalieren liessen. Die Demonstrationen vor der Polizeistation in Shenzhen werden von manchen als überflüssige Provokationen der staatlichen Macht beschrieben. Und es wird angenommen, dass Personen von aussen bei den Protesten den Ton angaben.
Einig sind sich die AktivistInnen jedoch darin, dass die KPCh das Zentrum einer rechten Staatsmaschinerie ist, die Kämpfe gegen die kapitalistische Ausbeutung unterdrückt und jene angreift, die diese unterstützen. Dass das Regime den harten Kurs bald aufgeben wird, ist unwahrscheinlich – zumal die Proteste in Hongkong die Nervosität in der KPCh noch vergrössert haben dürften.
Aufstand in Hongkong: Gegen den Einfluss Chinas
Seit über zwei Monaten schon ist die Protestbewegung in Hongkong aktiv. In den letzten Tagen organisierte sie weitere Demonstrationen, griff auch Polizeistationen an. Die Sicherheitskräfte reagierten mit Tränengas, Schlagstockeinsätzen und Verhaftungen. Nun erwägen sie auch den Einsatz von Wasserwerfern. Nachdem sich die Proteste in den ersten Wochen weitgehend auf Regierungsgebäude im Stadtzentrum konzentriert hatten, verlagerte sich das Geschehen nach der Parlamentserstürmung Anfang Juli auch in andere Stadtteile.
Fast täglich finden Aktionen zivilen Ungehorsams statt: Blockaden auf Strassen, in Einkaufszentren und in der U-Bahn. Letzten Freitag demonstrierten Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, am Montag führten Proteste und Streiks zu erheblichen Einschränkungen in der U-Bahn und im Flugverkehr.
Längst geht es nicht mehr nur um den Auslöser der Proteste, das mittlerweile auf Eis gelegte Gesetz über Auslieferungen nach China. Stattdessen zielen die Aktionen immer mehr auf Macht und Einfluss des Beijinger Regimes an sich. Gefordert werden der Rücktritt der von China protegierten Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam, direkte Wahlen des Parlaments und eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt. Die jüngste Eskalation hat auch mit dem brutalen Angriff einer Gruppe von Männern in weissen Hemden auf Protestierende in einem Vorort zu tun, bei dem die Polizei erst spät eingriff und kaum gegen die Angreifer vorging, die der Beijing nahestehenden örtlichen Mafia zugeordnet werden.
Die Protestbewegung scheint nicht gewillt zurückzuweichen und kann dabei auf breite Unterstützung aus der Bevölkerung zählen. Sogar die Angriffe auf die Polizei treffen angesichts der harten Haltung der Regierung auf Verständnis. In staatlichen chinesischen Medien und vonseiten der Armee wird nun vermehrt ein härteres Durchgreifen gefordert und sogar die Möglichkeit einer militärischen Intervention Chinas angedeutet. Ein Ende der Auseinandersetzungen ist nicht in Sicht.
Ralf Ruckus