Von oben herab: Linkskonservativ
Stefan Gärtner erforscht Winterthur politgeografisch
In der Schweiz, wie sonst in der Welt auch, driften Stadt und Land auseinander, materiell, kulturell und politisch, wobei das natürlich ein Dreiklang ist: Wer sich eine hohe Grossstadtmiete leisten kann, hört weniger oft Helene Fischer und wählt weniger oft AfD oder SVP als die weniger Glücklichen auf dem Land. In der Stadt, da sind nicht nur die Programmkinos, sondern auch die coolen Arbeitsplätze, und coole Leute mit Arbeit, die wählen halt Grün, und die uncoolen ohne wählen gar nicht oder Rechts.
Es gibt natürlich auch die Uncoolen mit Arbeit, die deshalb nicht gleich Neoliberale oder Nazis sind, und die wohnen, zitiert die NZZ einen Politgeografen, in Luzern, Winterthur oder Biel, Städten, die zwar wie fast alle Schweizer Städte deutlich nach links gerückt seien, aber, weil die soziale Verdrängung in den Mittelstädten nicht so fortgeschritten sei wie in den Metropolen, noch kleine Leute beherbergten, die weniger «progressive» Positionen denn «klassische linke» verträten: Linkskonservative.
Ein Anruf bei meinem Freund Ruedi Wimder (Name geändert), 46, Cartoonist, Kolumnist und ziemlich kleiner Mann aus Winterthur, soll mir Genaueres verraten: «Klar bin ich links, aber eben auch total konservativ. Für mich ist das kein Widerspruch. Im Job z. B. bin ich superlinks, muss ich auch sein, weil mir die linken Szeneblätter, für die ich arbeite, meinen Kram sonst gar nicht abkaufen würden. Einen Cartoon über langhaarige Bekiffte, die die Klotür ausgehängt haben und nicht wissen, wie ein Spülschwamm aussieht, bekäme ich doch gar nicht unter! Bei mir zu Hause ist die Klotür natürlich drin, man kann sie sogar abschliessen, sogar doppelt abschliessen, denn Klotüren aushängen, das macht man vielleicht in der Kommune oder im besetzten Haus, aber nicht im Eigenheim, das ich ja nicht bis ins Jahr 2064 abbezahle, um mir beim du-weisst-schon zusehen zu lassen! Da muss die Kirche, in die ich nicht mehr gehe, schon im Dorf bleiben, in dem ich nicht mehr wohne.
Aber Arbeit für alle, dafür bin ich. Meine Frau zum Beispiel, die soll ruhig arbeiten, auch wenn ich nicht dafür bin, dass deswegen das Abendessen nicht pünktlich auf dem Tisch steht. Ich meine, ‹progressiv›, das ist ja auch erst mal nur ein Wort, wie ‹Klotür› oder ‹Irrweg›, denn gekocht wird zuallererst mit Wasser, wie dir meine Frau gern bestätigen wird, und dann mit Butter und Rahm, falls sie das nicht ebenfalls bald verbieten. Es gibt nun einmal gewisse gesellschaftliche Werte, an die sich jeder halten muss, weil sonst alles zusammenbricht, und wenn alles zusammenbricht, haben die Leute andere Sorgen, als die Zeitungen zu lesen, für die ich arbeite. Und wie zahle ich dann die Raten fürs Haus? Es muss, diesen Wahlspruch habe ich vom Goalie Oliver Kahn, zuallererst einmal weitergehen, aber fair weitergehen, denn ich habe, wie wir alle hier, Angst vor dem Abstieg, Angst vor der Drittklassigkeit, obwohl das vielleicht Quatsch ist bei 21 Punkten Abstand auf einen Abstiegsplatz. Aber Challenge League, das ist halt auch kein Zustand, immer bloss Challenge, immer nur Herausforderung, früher, da war der Vater Cartoonist und der Grossvater Cartoonist, und da wurde der Sohn natürlich auch Cartoonist. Und heute? Wollen meine Söhne Feuerwehrmann und Astronaut werden, und ob sie damit das Haus, das ich ihnen hinterlasse, abbezahlen können, daran verschwenden sie keinen Gedanken. Für mich ist die Zukunft, ich sag mal, etwas sehr Unsicheres, und deshalb bin ich so wie bei euch die Sahra Wagenknecht oder der Martin Schulz, und nicht nur von der Frisur her: Gerechtigkeit und Solidarität, ja bitte, aber dass Ausländer unsere Frauen überfallen, das kann ich nicht unterstützen, schon wegen meiner Frau nicht. Martin Schulz, ein klassischer Linkskonservativer. Was ist eigentlich aus ihm geworden?»
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.