Von oben herab: Tendenzen
Stefan Gärtner vernimmt Borers Botschaft

Am wichtigsten, hat der linke Wiener Schriftsteller Michael Scharang einmal gesagt, sei der Satz, und Thomas Borer, der mal Schweizer Botschafter in Deutschland war und eine sehr grosse, sehr hässliche Uhr trägt, hat dem Interviewer von der «SonntagsZeitung» jetzt einen sehr schönen Satz diktiert: «In der AfD gibt es tatsächlich problematische Tendenzen.»
Ein wirklich guter Satz, denn im deutschen Bundesland Thüringen hat ein waschechter Neonazi eine Landtagswahl gewonnen, was ja nun wirklich eine problematische Tendenz ist. Aber was macht der gute Schweizer, sieht er eine problematische Tendenz? Er bindet sie ein: «Trotzdem glaube ich nicht, dass eine Ausgrenzung zielführend ist», schliesslich hat man Hitler auch nicht ausgegrenzt, sondern eingerahmt und engagiert, was allerdings nicht gut funktioniert hat. «Die AfD steht zurzeit in den Umfragen bei etwa 18 Prozent, womöglich kommt sie bei den Wahlen sogar auf 20. Meines Erachtens ist es falsch, wenn man ein Fünftel der Bevölkerung ausgrenzt. Wenn man die Linken vom Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) auch noch dazunimmt, wäre es sogar über ein Viertel der Bevölkerung.»
Das Bündnis Sahra Wagenknecht, über dessen linken Charakter die Ansichten auseinandergehen, grenzt sich allerdings selbst aus, indem es bei Koalitionsverhandlungen auf Landesebene darauf besteht, die Waffenlieferungen an die Ukraine müssten aufhören, was Landesregierungen in Deutschland gar nicht zu entscheiden haben. «Da kommt einem das Zitat von Bertolt Brecht in den Sinn: ‹Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?› Holland, Schweden und Finnland zeigen, dass man Rechtspopulisten in eine Regierung einbinden kann, zum Teil werden sie dadurch sogar entzaubert, weil die Leute sehen, dass sie ihre Versprechen nicht einhalten können», und zum Teil, wie zurzeit in den Niederlanden, wird eine Regierung durch Aussagen der Art auffällig, «Halalfresser» sollten dahin gehen, wo sie hergekommen seien. Entzauberung pur, und dass solche Leute sich durch derlei unmöglich machen, stimmt einfach nicht, sie werden US-Präsident damit.
Kann sein, den Menschen geht es immer schlechter, aber die AfD ist eine neoliberale Partei, und Donald Trump wird den Superreichen wieder die Steuern senken, und wenn dann Wohnungen fehlen und alles immer teurer wird, ist die Migration schuld. So geht alles wunderbar auf, denn die Leute sind beschäftigt und müssen nicht mehr fragen, wo Thomas Borer seine grosse Uhr herhat. «Ähnlich wie in der Schweiz sind in Deutschland die Steuereinnahmen jedes Jahr gestiegen – aber man hat immer noch mehr ausgegeben. Wie andere Länder muss Deutschland wieder lernen zu sparen. Das Land braucht wahrscheinlich auch einen Elon Musk, der mal beim wuchernden Staat aufräumt», und auch das ist ein prima Satz, weil er zeigt, was für leer geräumte Sparköpfe die Schweiz als Botschafter schickt.
In Deutschland geht die Geschichte ja so, dass die kleinen Leute den Hitler gewählt haben und die grösseren Leute, die mit Geschmack und Bildung, daran nichts machen konnten. Heute sitzen Letztere wieder da und mahnen, das Volk nicht auszugrenzen, und zwar aus guter staatspolitischer Verantwortung, nicht etwa aus Eigennutz: «Aufgrund der Brandmauer zur AfD ist in Deutschland nur noch eine linke oder eine Mitte-links-Regierung im Bereich des Möglichen» – und war es einst nicht schon die Idee der Stunde, die NSDAP den hinderlichen Gewerkschaften vorzuziehen? Nun hofft der Borer, dass Trump einen «Schub» bringen wird, «mit seinen niederen Steuern, dem Bürokratieabbau und der Migrationspolitik», und dass Faschismus, wie Hermann L. Gremliza argwöhnte, bloss Kapitalismus mit terroristischen Mitteln ist, ist natürlich Unsinn.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.