Brasilien: Beispiellose Dreistigkeit
Hacks belegen, dass Brasiliens Justizminister Sérgio Moro illegale Absprachen traf, um Expräsident Lula da Silva hinter Gitter zu bringen. Ob ihn das seinen Posten im Kabinett Bolsonaros kostet, ist allerdings ungewiss.
Was würde man in der Schweiz sagen, wenn ein Richter in einem Prozess gegen einen bekannten Politiker heimlich Absprachen mit den Anklägern träfe? Wenn er mit ihnen sogar eine PR-Strategie ausheckte? Wenn er den Politiker dann zu einer Haftstrafe verurteilen würde, die diesen von den nächsten Wahlen ausschlösse? Und wenn der Gewinner der Wahlen diesen Richter dann zum Justizminister machte?
In jeder funktionierenden Demokratie wäre solch ein Justizminister zum Rücktritt gezwungen, und der Prozess würde annulliert. Nicht so in Brasilien.
Denn es geht um niemand Geringeren als Sérgio Moro. Für konservative BrasilianerInnen ist Moro der Justizsupermann. Als Richter verurteilte er Dutzende Politiker und Wirtschaftsführer ohne Rücksicht auf ihre Stellung zu langen Haftstrafen. Sie waren im Zuge der Korruptionsermittlungen rund um den Erdölkonzern Petrobras aufgeflogen. Die Untersuchungen, die 2014 begannen, wurden unter dem Codenamen Lava Jato (Autowaschanlage) weltweit bekannt. Und Moro wurde ihr Gesicht. Er verkörperte die Hoffnung vieler BrasilianerInnen auf ein Ende der epidemischen Korruption.
Allerdings musste sich Moro auch immer wieder den Vorwurf anhören, dass er am liebsten PolitikerInnen der linken Arbeiterpartei hart anpacke. Insbesondere auf einen Mann schien er es abgesehen zu haben: Expräsident Lula da Silva. Diese Einseitigkeit trug zum Eindruck bei, dass die Korruption in Brasilien ausschliesslich ein Problem der Linken sei. Es entstand ein Klima, das zur umstrittenen Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff und schliesslich zum Aufstieg des rechtsextremen Hinterbänklers Jair Bolsonaro führte.
Glückwünsche zum Coup
Der Verdacht der Parteilichkeit Moros hat sich nun spektakulär bestätigt. «The Intercept Brasil», eine Nachrichtenseite für investigativen Journalismus, hat Chatnachrichten zwischen Moro und der Staatsanwaltschaft veröffentlicht. Unbekannte hackten die Konversationen im Chatdienst Telegram, es soll sich um Tausende Manuskriptseiten handeln, die «The Intercept» in den kommenden Wochen veröffentlichen will. Sie belegen klar: Moro und die Anklage missbrauchten Lava Jato zu politischen Zwecken. So gab der Richter dem Staatsanwalt Deltan Dallagnol Anweisungen, wie er die Ermittlungen gegen Lula zu führen habe. Einmal sprechen die beiden über ein abgehörtes Telefonat zwischen Lula und Präsidentin Rousseff. Sie wissen, dass die Veröffentlichung der Aufnahme illegal wäre, entscheiden aber, sie den Medien zuzuspielen. Hinterher beglückwünschen sie sich zu dem Coup. An anderer Stelle gibt Dallagnol zu bedenken, dass man keine Beweise dafür habe, dass Lula vom Baukonzern OAS im Gegenzug für Auftragsbeschaffungen ein Apartment erhalten habe. Moro ignoriert den Einwand. Er ist wie ein Schiedsrichter, der mit einer Fussballmannschaft den Ausgang eines Spiels verabredet.
Im Rückblick überrascht sein Urteil daher umso weniger: Moro verurteilte Lula 2017 zu neuneinhalb Jahren Haft. Die Strafe wurde in zweiter Instanz auf zwölf Jahre erhöht. Damit war das Ziel erreicht. Lula konnte nicht mehr zu den Präsidentschaftswahlen 2018 antreten, die er laut Umfragen hätte gewinnen können. Moros Team hatte gesiegt.
Entzaubert
Bemerkenswert ist nun erstens die Unverschämtheit, mit der Moro alles abtut und behauptet, die Absprachen, die an Verschwörung grenzen, seien völlig normal. Zweitens der tiefe Graben, der sich erneut in der Öffentlichkeit auftut: Rechte verteidigen Moro und fordern die strafrechtliche Verfolgung von «The Intercept»; Linke wollen die Freilassung Lulas und eine Anklage gegen Moro. Drittens fällt auf, dass Präsident Jair Bolsonaro seinen Justizminister zwar verteidigt, aber auch sagt: «Hundert Prozent vertraue ich nur meinen Eltern.»
Sollte Moro wegen des Skandals zu Sturz kommen, bräche eine entscheidende Stütze der kriselnden Regierung Bolsonaro weg. Bereits jetzt ist klar, dass der angeblich unbestechliche Moro entzaubert ist. Dem wichtigen Kampf gegen die Korruption hat er einen Bärendienst erwiesen.