Türkische Aussenpolitik: «Eine Militäroffensive ist unwahrscheinlich»

Nr. 33 –

Nach wochenlangen Drohgebärden haben sich Washington und Ankara auf die Einrichtung einer «Pufferzone» im Norden Syriens geeinigt. Politologe Axel Gehring über die Gefahren des Abkommens und die Zukunft Rojavas.

WOZ: Herr Gehring, nachdem der türkische Machthaber Recep Tayyip Erdogan mehrfach mit einem militärischen Angriff auf das nordsyrische Rojava drohte, haben sich die USA und die Türkei vergangene Woche auf ein Abkommen geeinigt. Es sieht im kurdischen Gebiet eine sogenannte Pufferzone hin zur türkischen Grenze vor. Wie beurteilen Sie das Resultat der Verhandlungen?
Axel Gehring: Dafür muss man ein Stück zurückgehen – diese Zone ist ja bereits seit Monaten im Gespräch. US-Präsident Donald Trump hatte im Dezember angekündigt, seine Truppen aus Nordsyrien abzuziehen. Ein paar Tage später drohte Erdogan mit der Invasion. Daraufhin war es wiederum Trump, der mit einem seiner typischen Tweets eine Zwanzigmeilenzone überhaupt erst ins Gespräch brachte.

Aktuell macht es aber den Anschein, als hätten die USA dem Druck der Türkei nachgegeben …
Erdogan hat im Januar den Ball aufgenommen und angeboten, die türkischen Truppen könnten eine solche Zone einrichten. Er hat damit den USA die im Dezember angedrohte Invasion im Januar nochmals schmackhaft zu machen versucht. Diese haben abwartend reagiert. In den letzten Monaten – auch im Kontext der verlorenen Bürgermeisterwahl in Istanbul – hat die Türkei dann immer mehr Druck aufgebaut.

Ende Juni hat die türkische Regierungspartei AKP die Wahl in Istanbul verloren. Will Erdogan mit einer Kriegserklärung die innenpolitische Krise überbrücken?
Es hängt sicherlich auch damit zusammen. Schon bei der türkischen Militärinvasion im nordsyrischen Afrin vor über einem Jahr hatte ausser der linken HDP keine türkische Partei fundamentale Kritik geäussert. Nun will die AKP erneut ein Thema auf Platz eins der politischen Agenda bringen, das das Land aus ihrer Sicht einen soll. Aber Fragen über Krieg und Frieden lassen sich nicht nur durch die Brille einer kurzfristigen politischen Mobilisierung betrachten. Der türkischen Regierung ist klar, dass in Syrien ein Stellvertreterkrieg geführt wird, in dem mächtige Staaten eine wichtige Rolle spielen – und dass sie ihre Interessen mit ihnen abgleichen muss.

Wie nun etwa im Deal über die Pufferzone mit den USA …
Offiziell nennen sie es ja nicht Deal, sondern «Statement on Joint Military Talks Regarding Syria». Denn völkerrechtlich betrachtet dürfen sie gar kein solches Abkommen schliessen: Syrien ist an sich ein fremder Staat, in dessen innere Angelegenheiten sie sich formaljuristisch nicht einmischen dürften.

Vom Inhalt dieses Statements ist nicht viel bekannt. Worauf haben sich die beiden Nato-Staaten denn geeinigt?
Die Militärdelegationen haben drei Punkte festgehalten. Erstens möchte man zügig Massnahmen implementieren, um den türkischen Sicherheitsbedenken gerecht zu werden. Zweitens will man ein gemeinsames Operationszentrum in der Türkei aufbauen, um die Koordinierung der Sicherheitszone gemeinsam gestalten zu können. Und drittens soll diese Zone zu einem sogenannten Friedenskorridor werden. Dabei sollen alle Anstrengungen unternommen werden, damit geflüchtete oder vertriebene Syrerinnen und Syrer wieder in ihr Land zurückkehren könnten.

Was bedeuten diese drei Punkte konkret?
Auf den ersten Blick wirkt das alles sehr weich, viele formale Fragen bleiben offen: etwa, wie gross diese Zone sein soll, wessen Truppen sie kontrollieren werden – und welche Rolle die nordsyrischen Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava dabei spielen. Damit wurde ein Statement formuliert, mit dem die USA wohl versuchen, die Türkei hinzuhalten und eine Invasion abzuwehren.

Wird dies mit dem Abkommen gelingen?
Die Türkei hat sich darauf eingelassen und es ihrerseits als Erfolg verkauft. Eine direkte militärische Offensive ist damit äusserst unwahrscheinlich geworden. Das ist eine positive Entwicklung. Aber das Problem ist, dass die Türkei ihrerseits nun aufgrund der butterweichen Formulierung ebenso ihre Drohung aufrechterhalten und erneut Forderungen stellen kann. Ebenso bleibt die Spannungssituation in Rojava weiterhin bestehen.

Von den drei Punkten des Deals ist der letzte wohl der schwierigste: der Friedenskorridor, wo vertriebene Syrerinnen und Syrer angesiedelt werden sollen. Es ist hochproblematisch, dass sich die USA darauf eingelassen und sogar diese Formulierung in ihren offiziellen Sprachduktus aufgenommen haben. Denn der Begriff stammt aus der türkischen Aussenpolitik und meint einen Korridor, mit dem bewusst Bevölkerungspolitik betrieben wird. Es soll dort also gezielt eine arabische Bevölkerungsmehrheit entstehen. Das Worst-Case-Szenario wäre, dass die Türkei tatsächlich anfängt, dort Menschen gegen ihren eigenen Willen und gegen den Willen der Bevölkerung unterzubringen, um die lokale Selbstverwaltung auszuhebeln. Damit schafft sie die Grundlage für weitere Konflikte.

Auch der Umfang der Zone ist bislang offen. Die Türkei spricht von dreissig bis vierzig Kilometern, die USA von maximal fünfzehn. In beiden Fällen würde diese Zone aber strategisch wichtige Städte Rojavas – etwa Kobane oder Kamischli – einschliessen …
Bei dreissig Kilometern könnte man überhaupt nicht mehr von kurdischer Selbstverwaltung sprechen. Dann wäre praktisch alles, was kurdisch besiedelt ist, in dieser Zone, und es blieben fast nur arabische Gebiete östlich des Euphrat übrig. Inzwischen ist bekannt geworden, dass die Zone womöglich nur fünf Kilometer umfassen soll, wobei sie von lokalen Militärräten kontrolliert und von der internationalen Anti-IS-Koalition in der Umsetzung überwacht würde. Das wäre ein vergleichsweise mildes Szenario. Aber auch da würden die grossen Städte innerhalb der Zone liegen. Und für die Türkei wäre es dennoch ein erheblicher Teilerfolg und eine Basis für weitere Forderungen.

Rojava gilt als sicherster Teil Syriens – auch für Minderheiten. Inwiefern bedroht dieses Abkommen die dortige Selbstverwaltung unter der Führung der SDF, der Syrischen Demokratischen Kräfte?
Für die Selbstverwaltungsstrukturen bedeutet es noch nicht den grossen, schweren Rückschlag. Dennoch wird ihr diplomatischer Spielraum geringer, je mehr Zugeständnisse die USA der Türkei gegenüber machen. Es wirkt, als würde der fragile Status quo erst mal festgeschrieben. Damit besteht für Rojava noch immer keine diplomatisch abgesicherte Perspektive.

Das Gebiet steht also unter dem Druck, eine sehr konventionelle Aussenpolitik zu betreiben. Entweder müssen die Kurden den USA gegenüber Konzessionen machen, um eine türkische Invasion aufzuhalten, oder aber gegenüber Syriens Machthaber Assad. Unter Druck steht also die Möglichkeit, selbstbestimmt eine alternative Gesellschaftsordnung aufzubauen. Wenn es über Jahre hinweg nur noch um das eigene Überleben geht, wird das schwierig.

Der Politologe Axel Gehring (38) lehrt an der Universität Marburg. Er forscht zu den Beziehungen zwischen der Türkei und der EU sowie zur türkischen Geschichte und Gegenwart. Auch mit der türkischen Aussenpolitik und insbesondere deren Rolle in Syrien hat sich Gehring intensiv beschäftigt.