Der Fall Epstein: Die Macht der Konfrontation
Der Finanzjongleur und Sexualstraftäter Jeffrey Epstein entzog sich durch Selbstmord der bevorstehenden Konfrontation mit seinen Opfern. Was passiert, wenn missbrauchte Frauen Zeugnis ablegen, zeigt ein anderer Fall.
«Ich bin kein Sexualverbrecher, bloss ein Delinquent», scherzte Jeffrey Epstein 2011 gegenüber JournalistInnen, «das ist der Unterschied zwischen einem Mörder und einer Person, die Brötchen klaut.» Der US-Financier war eben aus einer dreizehnmonatigen Halbgefangenschaft entlassen worden. Das milde Urteil war das Resultat einer verblüffenden aussergerichtlichen Einigung: Epstein hatte sich 2008 in Florida der Prostitution mit Minderjährigen schuldig bekannt. Im Gegenzug wurden die bundesstaatlichen Ermittlungen gegen ihn eingestellt.
Der 53-seitige FBI-Bericht über das «Sex-Schneeballsystem», mit dem sich der Multimillionär Zugang zu Dutzenden von immer jüngeren Mädchen verschafft hatte, verschwand in der Versenkung. Und damit eine drohende lebenslange Freiheitsstrafe. Die Klägerinnen wurden erst hinterher über den Justizkuhhandel informiert. So ähnlich haben Epsteins Rechtsanwälte ihren skandalträchtigen Klienten jahrzehntelang verteidigt: Die meist jungen, finanzschwachen Opfer seiner sexuellen Übergriffe wurden mit Schweigegeld gekauft, als «Stricherinnen» verleumdet oder juristisch ausgetrickst, jedenfalls in die Unsichtbarkeit abgedrängt.
Die Wut ist gross
Epstein hat ein Leben lang Brötchen geklaut oder erschlichen. Ohne Studienabschluss fand der junge Mann aus kleinbürgerlichen Verhältnissen seine erste Stelle als Lehrer an einer Privatschule – und wurde hier und andernorts bald unter undurchsichtigen Umständen wieder entlassen. Doch immer wieder wusste er sich bei den Mächtigen einzuschmeicheln. Jahrzehntelang hat er sich hochgeblufft und dann bezeichnenderweise im Kasinokapitalismus Karriere gemacht. Kein Geschäft war ihm zu schmutzig, kein Steuertrick zu billig, um seinen Reichtum zu mehren. Und so schamlos, wie er die Schwachstellen von politischen und wirtschaftlichen Systemen zur Profitmaximierung nutzte, so nutzte er auch die Verletzlichkeit seiner Opfer zur Befriedigung der eigenen sexuellen Lüste und Launen.
Die #MeToo-Bewegung hat offengelegt, dass es in den USA und auch anderswo viel zu viele Epsteins gibt. Und somit auch viel zu viele Opfer von sexuellen Übergriffen, die endlich zu Wort kommen sollten. Im Fall Epstein können die Frauen nun den Sexualtäter, der im Gefängnis Suizid beging, nicht mehr direkt mit ihrem Trauma konfrontieren. Die Wut darüber ist gross. Nicht zuletzt, weil vor kurzem ein vergleichbarer prominenter Prozess gezeigt hat, wie befreiend solche Zeugenaussagen vor Gericht sein können.
In den USA haben alle Angeklagten ein verfassungsmässig verbrieftes Recht darauf, ihre KlägerInnen vor Gericht zu sehen. Am 18. Januar 2018 stellte Richterin Rosemarie Aquilina aus Michigan diesen Anspruch auf Gegenüberstellung vom Kopf auf die Füsse: Sie erlaubte 156 Frauen, Zeugnis abzulegen über das Leid, die Depressionen und Angstzustände, die ihnen Doktor Larry Nassar zugefügt hatte. Als langjähriger Vertrauensarzt des Nationalverbands USA Gymnastics hatte Nassar rund 300 Mädchen sexuell missbraucht, die als zukünftige Spitzensportlerinnen darauf abgerichtet waren, Schmerzen und Unannehmlichkeiten stillschweigend zu ertragen. Viele Gymnasiastinnen – und auch ihre Eltern – hatten Nassars merkwürdige «intravaginalen Modifikationen» als Preis für die Chance auf Olympiagold hingenommen. Nun klagten sie ihn an, laut und deutlich.
Larry Nassar hatte sich schon vor dem Prozess bei Aquilina beschwert, es sei unerträglich, sich tagelang die Beschimpfungen der Frauen anhören zu müssen. «Selber schuld», sagte die Richterin kühl und verhängte am Ende 175 Jahre Gefängnis. Wichtiger noch als das hohe Strafmass war für viele Opfer die Konfrontation selbst. Die jahrelang missbrauchte Olympiasiegerin Aly Raisman sagte dem Täter ins Gesicht: «Wir sind jetzt eine Macht, und Sie sind nichts.»
Im Fall von Jeffrey Epstein erstrecken sich die bekannten sexuellen Übergriffe ebenfalls über Jahrzehnte und betreffen mindestens hundert zum Zeitpunkt der Tat minderjährige Frauen. Der Unternehmer erkaufte sich den Zugang zu den Mädchen mit Geld und «beförderte» manche der Minderjährigen zu Zuhälterinnen mit Kommission. Wie andere Menschenhändler auch suchte er sich mittellose, marginalisierte Opfer aus, die sich an niemanden wenden können und denen, falls sie es dennoch tun, niemand glaubt.
Gerechtigkeit statt Heilung
Viele der heute erwachsenen Frauen machen sich Vorwürfe, dass sie so lange schwiegen und weitere Übergriffe nicht verhindern konnten. Doch jetzt ist der Wille zur Konfrontation erwacht. Die Opfer können zwar Jeffrey Epstein nicht mehr persönlich zur Verantwortung ziehen. Doch sie können sagen, was sie über dessen kriminelles Netzwerk wissen. Und sie können finanzielle Genugtuung aus dem Erbe verlangen, was Epstein allerdings durch eine testamentarische Verfügung kurz vor seinem Suizid zu verhindern suchte.
Für eine gründliche Ermittlung von Epsteins Taten braucht es RichterInnen, die die Opfer ernst nehmen. Die Richterin im Fall Nassar wurde von Kollegen zurechtgewiesen, Aufgabe des Gerichts sei die Gerechtigkeit und nicht Heilung. Doch Rosemarie Aquilina scherte sich nicht um solche Kommentare und riet den Frauen vor Gericht: «Lasst euren Schmerz hier. Geht hinaus und tut Grosses!»