Frauen im Spitzensport: Jünger, schneller, besser, nackter
«Es ist einfach Scheisse, immer mit dem eigenen Kopf zu kämpfen.» Mit diesen Worten hat die US-Stargymnastin und siebenfache Olympiamedaillen-Trägerin Simone Biles nach dem Teamfinal der Kunstturnerinnen ihre weitere Teilnahme an den Olympischen Spielen in Tokio abgesagt.
Nachdem der US-amerikanische Turnverband zuerst eine Verletzung vorschob, korrigierte Biles kurz darauf: «Ich muss mich auf meine psychische Gesundheit konzentrieren.» Sie fühle sich nicht bereit, habe zum ersten Mal in ihrer Karriere Angst. Sie setze nicht aus, weil sie verletzt sei, sondern weil sie keine Verletzung riskieren wolle.
Biles turnt, seit sie sechs Jahre alt ist. 2013 gewann die damals Sechzehnjährige die Weltmeisterschaften in Antwerpen. In Nanning (2014), Glasgow (2015), Doha (2018) und Stuttgart (2019) holte sie zahlreiche Goldmedaillen und konnte als erste Turnerin den Weltmeistertitel im Mehrkampf dreimal in Folge verteidigen. Simone Biles gilt als erfolgreichste Turnerin weltweit. Und nun ihr Rückzieher. Die Sportwelt schluckt leer.
Biles’ Bekenntnis zur mentalen Gesundheit fällt in eine Zeit, in der so offen über psychische Gesundheit gesprochen wird wie nie zuvor. Die Debatte, die im und über den Spitzensport geführt wird, dreht sich um Leistungsdruck, Leistungsgrenzen, aber auch um weibliche Körper, Sexismus, Rassismus und das intersektionale Zusammenspiel dieser Faktoren. Der Spitzensport ist ein Ort systematischer Ausbeutung und der Kapitalisierung von Körpern. Gerade Frauen müssen nicht nur oftmals besser sein als ihre männlichen Kollegen. Sie müssen dabei auch gut aussehen. Aber nicht zu gut, um noch ernst genommen zu werden, und doch weiblich genug, um sich sexualisieren zu lassen und sich bis heute an längst überholte Kleidungsvorschriften zu halten. Wer glaubt, die knappe, streng reglementierte Kleidung von Athletinnen werde nicht fetischisiert, weil sie angeblich allein dem körperlichen Ausdruck diene, der oder die vertritt wohl auch noch die Meinung, Sport sei unpolitisch.
Frauen im Sport sind zudem nie nur Fussballerinnen oder Gymnastinnen, sie sind Sportlerinnen UND Frauen. Im Fall von Biles eine Weltklasseturnerin UND eine Schwarze Frau. In der «Washington Post» schreibt Candace Buckner, Simone Biles rette einen besudelten Sport, während sie eine ganze «race» und ein ganzes Geschlecht repräsentiere. Biles müsse eine soziale Verantwortung als Vorbild wahrnehmen, und das in doppelter Weise – als Frau und als Person of Color. Und dabei mit einem breiten Lächeln im Gesicht Rekorde aufstellen und brechen. Am Mittwoch letzte Woche war Biles nicht nach Lächeln zumute. Beim Verlassen der Turnmatte kämpfte die junge Frau mit den Tränen.
Immer mehr Spitzensportlerinnen erheben in den letzten Jahren die Stimme gegen ein perfides System, das bei sexistischen Kleidungsregeln anfängt und über die Magglinger Protokolle bis zu Sportarzt und Sexualstraftäter Larry Nassar reicht. Auch Simone Biles gehörte zu den von Nassar sexuell missbrauchten Frauen und durchlebte deswegen eine schwere Depression.
Die Reaktionen auf Biles’ Olympiarücktritt fielen durchmischt aus, nebst Zuspruch wurde auch altbekannte Kritik laut, wonach Biles’ Verhalten dem Sportsgeist widerspreche. Sie suche nur Aufmerksamkeit, im Spitzensport sei kein Platz für Schwäche.
Dem Spitzensport wohnt die Logik inne, dass nur erfolgreich sein kann, wer jung – immer jünger – anfängt, nicht widerspricht, alles hinnimmt und sich kaputtmacht, seine eigenen Grenzen missachtet, gerade die der mentalen Belastung. Es ist ein System, in dem der Glaube vorherrscht, man müsse Menschen brechen, um sie grösser und stärker wieder aufzubauen. Erniedrigung im Dienst der Spitzenleistung. Schwarze Pädagogik wird im Spitzensport nicht nur toleriert, sondern aktiv gefördert. Über zehn Jahre lang machte Simone Biles alles mit.
Jetzt hat sie einen vorläufigen Schlusspunkt gesetzt, der doch bloss ein halbherziger ist: Am Schwebebalken trat Simone Biles diese Woche doch noch an – und gewann eine Bronzemedaille.