Proteste in Hongkong: Eine Stadt lehnt sich auf
Seit Monaten kämpfen auf Hongkongs Strassen Hunderttausende für Demokratie und Unabhängigkeit. Ein Blick in die Realität, die die Wut befeuert.
Spätestens seitdem Anfang August Hunderte Granaten durch Hongkongs schwüle Nachtluft flogen, hängt das Tränengas überall: in den Nebenstrassen des TouristInnenviertels Tsim Sha Tsui, in den Schlagzeilen rund um die Welt, im Bewusstsein der Millionen, die in diesem Sommer auf die Strasse gehen.
Die Hoffnungen Letzterer waren gross. Doch von den Millionen sind in den letzten Wochen grösstenteils noch ein paar Tausend Radikaler zu sehen: Schülerinnen und Studenten, die Abend für Abend an der sogenannten Frontline stehen und sich auf ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei einlassen. Mit grünen und violetten Laserpointern zielen sie auf die unzimperlichen Beamten, ihre verbarrikadierten Gebäude, ihre locker sitzenden Waffen. Die Antwort ist im besten Fall Tränengas, im schlimmsten Fall eine Haftstrafe von bis zu zehn Jahren. Einige Kilometer abseits der Frontline, hinter der Grenze Hongkongs, sammeln sich im chinesischen Shenzhen derweil paramilitärische Einheiten zum warnenden Zeigefinger der autoritären Allmacht.
Bei einer Kundgebung am Wochenende sind aus den wenigen Tausend zwar zum ersten Mal seit Wochen wieder Hunderttausende geworden, laut AktivistInnen sogar 1,7 Millionen. Wie sich der neuerliche Anstieg der Zahlen auf der Strasse auf die weiteren Proteste auswirkt, ist jedoch unklar.
Die zwei grossen Fragen seien mittlerweile nur noch, wie viel Repression die Regierung einsetzen werde und wie widerstandsfähig die FrontlinerInnen seien, schätzt Kerry Kennedy, emeritierter Politikprofessor an der Education University von Hongkong. «An rationale Lösungen glaube ich längst nicht mehr.»
Doch egal unter welchen Vorzeichen der Sommer in die Geschichte der Sieben-Millionen-Metropole eingehen wird – eines ist klar: Er wird sich wiederholen. Denn das Auslieferungsgesetz von Regierungschefin Carrie Lam, dessen kompletter Rückzug nur eine der Forderungen der Protestierenden ist, bleibt lediglich ein Auslöser. Die Gründe dafür, dass zum zweiten Mal innert fünf Jahren Hunderttausende durch Hongkongs Strassen ziehen, liegen tiefer.
Signal in die Welt
«Geh nicht dahin», rät ein Tourist, «dort ist überall Tränengas.» Und meint damit eine Nebenstrasse des Bezirks Tsim Sha Tsui, in der er eben noch beim Abendessen sass. Geschäft um Geschäft, Restaurant um Restaurant versperrt an diesem Abend Mitte August den Blick in sein Inneres mit metallenen Absperrungen. Vor den Lokalen stehen die FrontlinerInnen, schwarz gekleidet, die Gesichter hinter Gasmasken und Schutzbrillen, auf den Köpfen Baustellenhelme. Setzt die Polizei in Kampfmontur zu einer Offensive an, dringen Rufe von den vorderen in die hinteren Reihen – und alle rennen. So lange, bis die nächsten Rufe und Handzeichen signalisieren, dass man nun wieder in Sicherheit sei. Zumindest bis zum nächsten Vorrücken der Polizei.
Die Nachrichtenportale werden später über diesen Abend berichten: Ein Polizist schoss einer von rund 4000 freiwilligen ErsthelferInnen ein sogenanntes Bean-Bag-Geschoss ins Auge, sie wird vermutlich erblinden. Andere feuerten Tränengas in einer U-Bahn-Station und ein Gummigeschoss aus zwei Metern Entfernung auf einen jungen Mann ab. Als Antwort auf diesen neuerlichen Höhepunkt der Polizeigewalt wird in den Folgetagen der Flughafen der meistbesuchten Stadt der Welt stillstehen. Ein Signal in die Welt und die Regierungsgebäude: Wir sind stark, wir lassen uns nicht vertreiben.
Die Wut auf die Polizei ist zum stärksten Motor und zum Kitt der Proteste geworden. Die Zustimmung für deren Vorgehen sank zuletzt auf 39 Prozent, Anfang Juni lag sie noch bei 61. In Tsim Sha Tsui reichen SeniorInnen den FrontlinerInnen frisches Wasser, mit dem sie sich das Tränengas aus den Augen und von der Haut spülen können. ZivilistInnen reihen sich vor den Polizisten in Kampfmontur auf und rufen: «Ihr seid Triaden!» Mit den Sprechchören verweisen sie auf die Gangmitglieder, die einige Wochen zuvor willkürlich auf ZivilistInnen, Protestierende und JournalistInnen einprügelten.
«Vor dem Studium war Bildung für mich dazu da, einen gut bezahlten Job zu bekommen», sagt Laura Chén, 27 Jahre alt, für Geld in der Kommunikation und für die Revolution im Fact-Checking tätig. Ihren richtigen Namen will sie nicht in der Zeitung lesen. Während draussen die Proteste liefen, prüfte sie Informationen zu Polizeibewegungen und gab sie über die verschlüsselte Messenger-App Telegram, über die sich der führerlose Protest basisdemokratisch organisiert, an die Bewegung zurück. Mit zunehmender Erfahrung der Protestierenden sei das jedoch überflüssig geworden. An der Universität habe sie aber gelernt, Dinge zu hinterfragen. Nun sagt sie Sätze wie: «Ohne faires System kann es keine Menschenrechte geben.» Dabei hatte Chén eigentlich Cultural Studies zu studieren begonnen, weil eine der Dozentinnen ein Buch über einen Popsänger geschrieben hatte, in den sie verliebt war.
Alles für die Freiheit
Politologe Kennedy hat nach der sogenannten Regenschirmrevolution von 2014 untersucht, was die Menschen auf die Strasse treibt. «Die wichtigsten Faktoren sind politische», schreibt er: die Ablehnung der Kommunistischen Partei sowie der vielen TouristInnen aus China. Aber auch sozioökonomische Ursachen wie die tiefen Löhne und der fehlende Zugang zum Wohnungsmarkt. Die Immobilienpreise in Hongkong gehören zu den höchsten der Welt. Der Preis pro Quadratmeter ist mehr als doppelt so hoch wie in Zürich, der mittlere Monatslohn liegt bei umgerechnet rund 2200 Franken.
«Für mich war die Vorstellung, unbedingt Geld für ein Haus sparen zu müssen, ein unglaublicher Druck», sagt Chén. «Die meisten von uns wohnen bis zur Hochzeit bei ihren Familien.» Ein anderer Protestierender, ein Student, schreibt via Telegram: «Auch für mich waren die hohen Mietkosten ein riesiger Druck.» Aber mittlerweile akzeptiere er die Preise, schliesslich seien die restlichen Konsumgüter verhältnismässig günstig und Hongkong immerhin eine internationale Stadt. Chén hat einen anderen Weg gefunden, um dem Druck zu entfliehen: «Ich bin eine von denen, die ihr Geld lieber fürs Reisen ausgeben.» Seit der Regenschirmbewegung bestehe sie beim Reisen jeweils darauf, als Hongkongerin bezeichnet zu werden, nicht als Chinesin.
Der grösste Teil der Protestierenden dieses Sommers – zu fast gleichen Teilen Männer wie Frauen – sind einer kürzlich veröffentlichten Umfrage dreier Universitäten zufolge in ihren Zwanzigern, gut gebildet und aus der Mittelschicht. Sie sind privilegiert, es sind meist keine existenziellen Fragen, die sie auf die Strasse treiben, sondern idealistische. Bereits in der Schule müssen sie sich, um studieren zu dürfen, in den sogenannten Liberal Studies mit Fragen wie «Welche Grundrechte stehen uns als Mitglieder der Gesellschaft zu?» oder «Welche Regierungsform wäre die beste für Hongkong?» beschäftigen.
Nur zwanzig Prozent für Lam
«Für mich ist die abnehmende Meinungsfreiheit der grösste Grund, auf die Strasse zu gehen», schreibt der Protestierende via Telegram und führt aus: «Für junge Menschen war die Zukunft in Hongkong schon immer trostlos, angesichts der Übergabe der Stadt an den chinesischen Staat im Jahr 2047.» Für viele Junge sei diese Tatsache erst mit dem geplanten Auslieferungsgesetz, das die Regierung gegen den Widerstand der Bevölkerung durchdrücken wolle, in greifbare Nähe gerückt, schreibt er.
Regierungschefin Carrie Lam hat das Auslieferungsgesetz zwar auf Eis gelegt, aber nicht ganz zurückgezogen. Die Protestierenden fordern neben dem Rückzug des Gesetzes auch, dass die Proteste nicht mehr als «riots» eingestuft und die über 700 inhaftierten AktivistInnen freigelassen werden sollen; das Vorgehen der Polizei müsse von unabhängigen Stellen untersucht werden. Sie wollen zudem auch, dass Lam zurücktritt und die Bevölkerung ihre Nachfolge wählt anstatt eines Wahlkomitees, das in erster Linie aus VertreterInnen der Wirtschaft und Chinas besteht. Die Unterstützung für Lam liegt aktuell noch bei zwanzig Prozent.
«Ich glaube», schreibt der Student, «dass wir eine grosse Zukunft vor uns haben.» Mit den Protesten sei klar geworden, dass es viele Menschen mit der gleichen Überzeugung gebe: «Wir werden alles tun, um für unsere Freiheit zu kämpfen.»