Juan Branco: Der Robin Hood von Paris
Anwalt, Autor, Aktivist: Nach Wikileaks-Gründer Julian Assange vertritt Juan Branco nun auch die Gelbwestenbewegung vor Gericht. Eine Begegnung mit dem Bourgeois, der auszog, die Mächtigen das Fürchten zu lehren.
Zwischen zwei sommerlichen Regenschauern eilt Juan Branco aus seinem Büro gegenüber dem Eckcafé Le Cassette, wo die KellnerInnen eilig dicke Tropfen von Bistrotischen wischen. Hier, wo einst Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir das Bild der/des französischen Intellektuellen prägten, ist vom aufrührerischen Geist kaum noch etwas zu spüren, weil besser verdienende Pariserinnen und Touristen die Gegend fest in der Hand haben. Branco, Sohn eines portugiesischen Filmproduzenten und einer spanischen Psychoanalytikerin, wuchs mit seinen drei Geschwistern im 6. Arrondissement von Paris auf, Privatschule, Diners mit Filmschaffenden und Intellektuellen inklusive. Als Intellektueller möchte auch er bezeichnet werden, wenn er die Wahl hätte. Dabei hat Branco mehrere Berufe – oder viel mehr Berufungen.
Wegen seines schlaksigen Gangs und des dunkelblauen Blousons könnte man den Dreissigjährigen noch immer für den Studenten der Kaderschmieden Sciences Po und École nationale supérieure halten, der er einst war. «Man hat mich darauf programmiert, Teil des existierenden Systems zu werden», sagt er. «Ein System, in dem man einen Platz zugeteilt bekommt, von dem aus man nichts verändern kann. Aber dieser Platz passt nicht mehr zu meiner heutigen revolutionären Haltung.»
Am liebsten legt sich Branco mit den Eliten an, von denen er sich abgewandt hat. Als Anwalt berät er den Wikileaks-Gründer Julian Assange, über den er auch eine Biografie verfasst hat, die in Kürze erscheinen soll. Branco betreut dessen juristische Anliegen, wenn sie Frankreich betreffen, und hat persönlich bei Expräsident François Hollande für ihn ein Asylgesuch gestellt, das aber abgelehnt wurde. Auch für die Gelbwestenbewegung setzt er sich ein, indem er deren prominenteste Exponenten wie Maxime Nicolle juristisch vertritt, dem vorgeworfen wird, nicht genehmigte Demonstrationen organisiert zu haben.
Und nun läuft in Den Haag ein Verfahren gegen die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, die Branco mit seinem israelischen Anwaltskollegen Omer Shatz wegen der im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge vor Gericht stellen will. Die beiden werfen ihnen «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» vor. Zwei Jahre lang haben sie zusammen mit StudentInnen an dem 250 Seiten umfassenden Dokument gearbeitet und geben sich zuversichtlich, weil man ihnen aus rechtlicher Sicht nicht widersprechen könne.
Durch die Entscheidungen, die eigene Seenotrettung einzustellen und mit der libyschen Küstenwache zusammenzuarbeiten, seien 40 000 Flüchtende in Haft- und Folterlagern gelandet, und die Zahl der Ertrinkenden habe seitdem zugenommen. Die Staatsanwaltschaft in Den Haag solle daher untersuchen, inwieweit die ausbleibende Hilfe für Flüchtende im Mittelmeer von den nationalen Regierungen politisch in Kauf genommen worden oder gar beabsichtigt gewesen und damit strafrechtlich verfolgbar sei.
Für Branco tut sich damit eine neue, internationale Bühne auf. Die wachsende Aufmerksamkeit, die ihm und seiner Arbeit zuteilwird, treibt ihn zum Weitermachen an.
Heilsbringer oder Scharlatan
Juan Branco wird so sehr gehasst wie verehrt. Die einen sehen in ihm einen Heilsbringer und verschlingen jeden seiner Texte, die er unter anderem für die Monatszeitung «Le Monde diplomatique» schreibt (die auch als Beilage der WOZ erscheint). Für andere ist er ein Scharlatan, ein Scharfmacher und Möchtegernrevoluzzer: anziehend und abstossend gleichermassen. Seine KritikerInnen empören sich wegen seiner Veröffentlichungen, in denen er das politische System attackiert und mit der «Macronie» abrechnet, dem von Staatspräsident Emmanuel Macron geschaffenen System gegenseitiger Abhängigkeiten und Verstrickungen: Unter dem Titel «Crépuscule. Macron et les oligarques» (Abenddämmerung. Macron und die Oligarchen) und «Contre Macron» (Gegen Macron) deckte Branco detailreich die Beziehungen des Präsidenten und seiner Entourage zu einflussreichen Oligarchen aus Wirtschaft und Medien auf. Längst sind die beiden Bücher unter den AnhängerInnen der Gelbwestenbewegung zur Referenz geworden.
In der französischen Presse finden sich hingegen fast ausschliesslich kritische Stimmen zum Halbspanier, der zwar in Frankreich aufgewachsen ist, aber erst 2010 die Staatsbürgerschaft annahm. Der «Intello du Flore» (im Café Flore fingen einst Sartre und de Beauvoir ihre Karriere an) wird als selbstgefällig und überheblich beschrieben, als grössenwahnsinniger Sohn aus gutem Haus.
Branco schüttelt den Kopf über das, was über ihn zu lesen ist. Für ihn sind das erwartbare Vorwürfe, um von einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit seinen Argumenten abzulenken. Selbst linke Medien würden in seinen Augen letztlich am Erhalt des herrschenden Systems arbeiten. «All diese Pseudointellektuellen, die nicht ertragen, dass jemand eine elaboriertere Denkweise hat als sie, und ihnen aufzeigt, wie inhaltslos und kompromisshaft ihre Haltung ist. Da empfinde ich fast so etwas wie Genuss, dieses Gerede durch intelligentere Argumentation zu erdrücken.»
Dass er noch nach dem richtigen Grad zwischen Aufregung und Souveränität, zwischen Grossspurigkeit und Zurückhaltung sucht, kann man an den wilden Handbewegungen ablesen, die seine Erzählung begleiten. An den vielen Sätzen, die er anfängt, um dann mittendrin umzuspringen und einen neuen zu beginnen. Er betont, es sei ihm wichtig, Risiken einzugehen, «um als geborener Bourgeois meinen Platz in der Gesellschaft auch zu verdienen». Seine MandantInnen vertritt er nach eigener Aussage ganz ohne Honorar, sodass er zeitweise schon Sozialhilfe beziehen musste.
Fasziniert von der Farbe Gelb
Dass manche ihn mit Robin Hood vergleichen, der seine aristokratische Herkunft verraten hat, um sich an die Seite der Schwachen zu stellen, schmeichelt ihm. Die Gelbwesten faszinierten ihn seit der ersten Stunde: das Anarchistische, Spontane, der lang ersehnte Aufstand, ein Hauch von Umsturz in der Luft. Der Aufstand der Massen in gelben Warnwesten schien seiner Haltung recht zu geben: Auf Macrons soziale Gewalt werde eine ganz real gewalttätige Reaktion folgen. «Damit gehe ich noch einen Schritt weiter als meine Eltern, die nicht radikal genug waren.»
Auch andere französische Intellektuelle wie Didier Eribon und Édouard Louis haben die Farbe Gelb für sich entdeckt, beschäftigen sich wieder mit ihren proletarischen Wurzeln. Aber gerade dass Branco aus bürgerlichen Haus stammt, macht seine Faszination für die grösste Revolte der jüngsten französischen Geschichte so ungewöhnlich: «Ich habe bei diesen Leuten das gesucht, was ich selbst nicht habe: Erfahrungen mit dem echten Leben.» Branco empfindet eine nahezu kindliche Freude, mit seinen Ideen Chaos zu stiften. Nicht als schreiender Agitator vor den Massen, sondern als Denker im Hintergrund.
Die nächsten Wahlen finden in Frankreich im Jahr 2022 statt. Macrons Politik treibe das Land direkt in eine Präsidentschaft Marine Le Pens, prophezeit Branco. Er schwärmt von der Stimmung («vorrevolutionär!») während der ersten Protestsamstage der Gelbwesten Ende letzten Jahres, bereut den verpassten Revolutionsmoment: «Das Fehlen von Hierarchie war monatelang die Stärke der Gelbwesten, doch am 1. Mai zum Beispiel steckten wir im Protestzug der Gewerkschaften fest, die uns gebremst haben. Wir hätten uns über ganz Paris verteilen sollen. Dann hätte es nicht genug Polizei gegeben, um uns zu kontrollieren. Den Palais de Justice zu besetzen, hätte starke Symbolkraft gehabt. Aber dafür braucht es Anweisungen, und die können nur Anführer geben.» Seinen Mandanten Maxime Nicolle sehen viele in Frankreich als solch eine Führungsfigur. Gemeinsam mit Branco ergebe sich eine toxische Mischung, schreibt die konservative Presse: hier das Bürschchen aus gutem Haus, dort der Rowdy aus dem Volk.
Juan Branco selbst sagt, er trage Charakterzüge eines Autisten. Er meide Partys, um mehr Zeit zum Schreiben zu haben. «Mein Gehirn ist alles, was ich habe. Ich muss ständig aufpassen, denn man wartet nur darauf, dass ich eine Dummheit auf Twitter schreibe, um mich von allen Seiten anzugreifen.» Dann muss der Robin Hood à la française auch schon wieder zurück in sein Büro, um auf seine Art am Umsturz zu arbeiten. Viel Zeit bleibt ihm nicht. Die nächsten Regenwolken verdunkeln schon den Pariser Himmel.