Frankreich: Zwischen Verzweiflung und Rebellion
Zweieinhalb Jahre ist Emmanuel Macron im Amt. Von anfänglichem Reformeifer bis hin zu massivem Widerstand: Die FranzösInnen hadern noch immer mit ihrem Präsidenten. Begegnungen in einem verunsicherten Land.
Fisch wird über die Theke gereicht, in der Schlange vor dem Käsestand bekommen die Wartenden ein Glas Wein angeboten, etwas weiter liegen herrliche Waldpilze aus. An diesem sonnigen Herbsttag auf dem überdachten Marktplatz von Pantin scheint das Leben in Frankreich ziemlich normal. Die Gemeinde grenzt nordöstlich direkt an Paris, gehört jedoch zum Departement Seine-Saint-Denis. Hier beginnen die Postleitzahlen mit 93, und so wird auch die Gegend genannt: «quatre-vingt-treize», bekannt für den hohen Anteil an Sozialwohnungen, Arbeitslosen und SozialhilfeempfängerInnen. Die zahlungskräftigen Zugezogenen in ihren umgebauten Lofts oder trendigen Neubauten am Canal de l’Ourcq schicken ihre Kinder lieber in private Bildungseinrichtungen.
Kein Vertrauen in den Staat
Ein paar Hundert Meter vom Markt die Strasse hinauf, in der Rue Méhul Nummer 30, steht man vor dem spitzförmig zulaufendem Art-déco-Eingang einer öffentlichen Primarschule. Am Morgen des 23. September ging von hier aus ein Notruf bei der Feuerwehr ein. Die Schuldirektorin Christine Renon hatte sich in der Eingangshalle in den Tod gestürzt. «Das ganze Viertel stand unter Schock», erzählt eine Anwohnerin. «Es war furchtbar zu erfahren, wie sehr sie innerlich unter der Arbeit hier gelitten hat.» Was sie bedrückte, erklärte die 58-jährige Lehrerin in einem Abschiedsbrief an die zuständige Schulbehörde und andere SchulleiterInnen. «Heute, am Samstag, bin ich völlig erschöpft aufgewacht. Nur drei Wochen nach Ferienende», schrieb sie darin. «Diese vielen kleinen Nichtigkeiten, die 200 Prozent unserer Zeit beanspruchen. Ich habe kein Vertrauen in die Unterstützung und den Schutz, den unsere Behörde uns bieten müsste.»
Steigende Arbeitsbelastung bis zur Verzweiflung: Die Geschichte von Christine Renon ist kein Einzelfall. In den letzten Jahren haben sich in Frankreich immer wieder Angestellte des öffentlichen Dienstes das Leben genommen. LehrerInnen, Pflegepersonal in Krankenhäusern und allein in diesem Jahr 51 PolizistInnen. In einem Land, das unter Dauerstress steht, verängstigt durch Terroranschläge, mit einer sich stark verändernden politischen Landschaft und Präsident Emmanuel Macrons Regierung, die das Diktum ausgegeben hat, der französische Staat müsse sich zurückziehen, um das Land wieder wettbewerbsfähig zu machen.
Zum Heulen zumute
«Dieser Notstand bestand zwar schon vor Macron, aber seit er regiert, hat sich der Druck noch verschlimmert», so das Urteil von Sabrina Ali Benali. Die zierliche 33-Jährige mit den dunklen Locken hievt einen wuchtigen Rucksack mit kompletter technischer Ausstattung für ihre Nachtschicht auf den Caféstuhl im 20. Pariser Arrondissement. In einer Stunde ist die Mutter, politische Aktivistin und Buchautorin wieder für neun Stunden mobile Notärztin in der Hauptstadt. «Erst gestern war mir wieder zum Heulen zumute», beginnt sie ohne grosse Vorrede. «Eine alte Frau mit einem schlimmen Abszess am Bauch, mit Nierenversagen, Diabetes und hohem Blutdruck wollte ich direkt ins Spital schicken, aber sie liess sich nicht überreden. Sie habe das mehrmals durchgemacht: Stundenlanges Warten, und dann wirst du nach Hause geschickt.»
Ähnliche Geschichten über die Zustände im Gesundheitswesen erreichen Ali Benali täglich, seitdem sie im Januar 2017 auf Youtube ihren Frust herausliess. Elf Millionen Mal wurde das Video innert zwei Wochen geschaut, wenig später schrieb Ali Benali ein Buch über die Situation. Und wann immer sie es schafft, geht sie zu Demonstrationen, zuletzt am 15. Oktober an der Seite der Feuerwehrleute, «mit denen wir ja in einem Boot sitzen».
Mittlerweile streiken über 200 Einrichtungen in ganz Frankreich für mehr Betten und mehr Stellen. Macrons Politik macht Ali Benali wütend, weil Spitäler immer mehr wie Unternehmen wirtschaften sollen. Aber darüber hinaus sei es Macrons arrogante, verhöhnende Art, als gäbe es Probleme nur, weil man sich nicht genug anstrengt. «Jetzt kommt er auch noch mit den Scheindebatten über das Kopftuch oder die Einwanderung, um davon abzulenken, dass er seit den Protesten der Gelbwesten nichts für mehr soziale Gerechtigkeit getan hat.» Für ihre dreijährige Tochter wünscht sie sich eine solidarischere Gesellschaft, darum habe sie auch noch nicht das Handtuch geworfen. Ein Blick auf ihr Handy bedeutet ihr, dass es Zeit wird: «Hier stehen jetzt schon 67 Einsätze in der App, und wir sind 11 Ärzte. Das wird sportlich heute Nacht!» Dann schultert sie den schweren Rucksack und verschwindet in die Pariser Nacht.
«So verloren wie wir alle»
Auch Alexandra Ferré sitzt oft am Steuer. Anderthalb Stunden noch auf dem Nachhauseweg von Toulouse ins kleine Dörfchen Couthures am Ufer der Garonne. Jeden Monat fährt die resolute junge Frau mit dem Bubikopf bis zu 6000 Kilometer im Südwesten Frankreichs. Sie kontrolliert die Belieferung von Transportunternehmen mit Treibstoff. Als am Samstag, dem 17. November 2018, über 300 000 AutofahrerInnen landesweit protestierten, stand auch Ferré gemeinsam mit ihrer Mutter Catherine an einem Kreisverkehr. «Es war das erste Mal überhaupt, dass ich demonstriert habe», sagt die 31-Jährige. «Wir waren um die sechzig Leute. Wir grillierten zusammen, wir tranken. Die Menschen zeigten Verständnis für uns, auch wenn einige wegen der Strassensperren genervt waren.»
Die erfahrene Solidarität, die überwundene Scham, die Angst, nicht über die Runden zu kommen, das habe die Leute zusammengebracht. Sehr bald jedoch sei das Engagement schwieriger geworden: «Durch die Medien war die Bewegung schnell stigmatisiert. Man wollte uns weismachen, die Gelbwesten, das seien überwiegend Faschos. Ich hatte Angst vor beruflichen Konsequenzen, wenn ich weiter dabeibleibe», gesteht Ferré.
Als dann Macron Anfang des Jahres die «grosse nationale Debatte» lanciert hat, eine Art Promotour in alle Ecken Frankreichs, schien er eine neue Nähe zu seinen BürgerInnen zu suchen, zuzuhören und seine Politik erklären zu wollen, statt sie nur durchzupeitschen. Wie im Rest des Landes nahm die Beteiligung an den Protesten auch in Alexandra Ferrés Heimat von Woche zu Woche, Monat zu Monat ab, nachdem die Regierung die geplante Steuererhöhung auf Eis gelegt hatte. Nur ein Dutzend Gelbwesten, der harte Kern, macht heute in Couthures noch weiter Aktionen. Ferré sagt: «Macron wirkt für mich irgendwie verloren. So verloren wie wir alle.» Ein kurzes Zögern. «Oh, jetzt hätte ich fast einen Blitzer übersehen!»
Traditionell seien in ihrer Familie immer alle KommunistInnen gewesen, sagt sie und lacht. Dass Marine Le Pens Rassemblement National so erfolgreich ist, kann sie trotzdem verstehen. Es sei die Wut, dieses diffuse, schwer zu beschreibende Gefühl: «Irgendwie wollen wir Franzosen ja, dass sich etwas verändert, nur weiss keiner, in welche Richtung!»
Kein Entgegenkommen
Eines ist sicher: Die klare Ausrichtung des Staates an Interessen der Wirtschaft und an Kriterien der Wirtschaftlichkeit hat den enormen Widerstand vieler FranzösInnen geweckt. Er habe «verstanden», sagte Macron im Zuge einer grossen Fernsehansprache als Reaktion auf die Gelbwesten.
Doch als sei es nach dem Zuckerbrot nun wieder Zeit für die Peitsche, will der Präsident um jeden Preis zeigen, dass er sich von seinem grundlegenden Kurs auch in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit nicht abbringen lässt. «Es wird keine Form der Schwäche oder des Entgegenkommens geben», liess er Ende Oktober etwa die KritikerInnen seiner geplanten Rentenreform wissen, mit der er die derzeit 42 Sonderregelungen vereinheitlichen will, was für einige Branchen Vorteile, für andere jedoch Einschnitte bedeutet. Es fragt sich, ob der Widerstand einzelner Gruppen in den kommenden zweieinhalb Jahren noch einmal in eine grosse, nationale Protestbewegung münden wird. «Die gelbe Warnweste?», fragt Alexandra. «Klar, die habe ich ja eh immer griffbereit im Auto.»
Die Linke unter Macron : Links am Boden
«Weder links noch rechts»: Mit dieser Haltung konnte Emmanuel Macron 2016 seine Bewegung En Marche auf Erfolgskurs führen. Politikerinnen und Wähler, die vormals dem sozialdemokratischen Parti socialiste (PS) nahestanden, wechselten das Lager. Dabei war es Expräsident und PS-Politiker François Hollande gewesen, der Macrons Aufstieg – zunächst als Berater im Élysée, später als Wirtschaftsminister – erst ermöglicht hatte. Die traditionelle Bipolarität zwischen dem PS und den Konservativen, die sich heute Les Républicains (LR) nennen, war aufgehoben. Nun konnte eine radikalere linke Strömung die entstandene Lücke besetzen.
Mit Zustimmungswerten um die zwei Prozent war der einst stolze Parti communiste (PC) längst chancenlos. Stattdessen liess La France insoumise unter Jean-Luc Mélenchon die Linke hoffen. Aber während er bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2017 mit zwanzig Prozent auf dem vierten Platz gelandet war, stürzte seine Partei einen Monat später im Parlament auf fünf Prozent ab. Die Umsetzung ihres politischen Programms, zu dem die Gründung einer Sechsten Republik und das Neuverhandeln der europäischen Verträge gehört, ist somit in weite Ferne gerückt. Bleiben noch die Grünen, die andernorts in Europa als ÜberfliegerInnen gefeiert werden.
Doch deren Regierungsbeteiligung unter Hollande und Macron hat ihren Ruf schwer beschädigt. Auch haben die Grünen ihr thematisches Monopol verloren, seit nahezu alle Parteien – sei es aus Überzeugung oder Opportunismus – Ökothemen für sich entdeckt haben. Dabei bietet Macrons liberale Politik ausreichend Angriffsfläche. Aber weil sich die Gelbwesten bewusst von politischen Parteien distanzieren, kann die Linke auch den Druck der Strasse nicht für sich nutzen. Wann linke PolitikerInnen wieder eine ernst zu nehmende Machtbasis darstellen, ist ungewiss. Dabei wären sie jetzt so dringend nötig.
Romy Strassenburg und Pierrick Lanciaux