Kill Bill Vol. 2: Dornröschen, wachgeschossen

Was Quentin Tarantino mit seinem Publikum anstellt, geht in seiner Unverschämtheit weit über den Pakt hinaus, den das Kino mit seinen Gläubigen geschlossen hat.

Ist es der Traum von Menschen, zu Comic-Strip-Figuren zu werden, oder ist es der Traum von Comic-Strip-Figuren, zu Menschen zu werden? Ist es der Traum von Pulpfiction, zu Kunst zu werden, oder ist es der Traum von Kunst, zu Pulp­fiction zu werden? Träumt sich die Geburt den Tod oder der Tod die Geburt?

Das sind Fragen, die man nicht mit einer Lösung, sondern mit einer Form beantwortet. Mit einem Ornament oder mit einem Film. Und genau so verhält sich auch der zweite Teil von Quentin Tarantinos «Kill Bill» zum Ersten: wie eine Rachegeschichte, die sich eine Liebesgeschichte träumt, die sich eine Rachegeschichte träumt, die sich – und so weiter. Wie ein Blick nach Osten, der einem Blick nach Westen, der einem Blick nach Osten begegnet (im Pop-Universum natürlich). Und diese Spiegelungen bestimmen in «Kill Bill», dem ersten «Epos» im Tarantinoversum (nach der Kurzgeschichte von «Reservoir Dogs», der Anthologie von «Pulp Fiction» und dem Roman von «Jackie Brown»), sowohl die Mikro- als auch die Makrostruktur der Bilder und Erzählungen (von denen natürlich, wie im Tarantinoversum üblich, nichts, aber auch gar nichts etwas «Originales» sein kann). Und die Geschichte wird wirklich zu Ende erzählt. Wie «Die Nibelungen», «King Lear» oder «The Searchers»: Am Ende, da ohnehin beinahe alle tot sind, haben sich nicht nur die Helden, sondern auch die Sprachen für ihre Erzählungen erschöpft. Am Ende eines Epos kann nur ein neues Zeitalter beginnen.

Der Film ist nicht einfach der zweite Teil eines geschlossenen Werkes, so wie man bei «Ben Hur» einst seine Schoko-riegel-Kaufpause hatte, die bei «Kill Bill» aus marktstrategischen Gründen um ein paar Monate zu lang ausgefallen wäre. Genauso kann «Kill Bill» auf die Überbietungsstrategien von Sequels verzichten. Tarantino (dieses arrogant grinsende Arschloch) kann es sich sogar leisten, den Motor herunterzuschalten und sich bedächtiger als zuvor zu bewegen. Stil- und Genrewechsel innerhalb eines Filmes sind wir von ihm ja gewöhnt, aber zwischen Vol. 1 und Vol. 2 gibt es einen Schritt hinter den Spiegel, einen Sturz durch den Kaninchenbau. Nicht nur, dass der erste Teil, wie Tarantino sagte, ein Eastern und der zweite Teil ein Western ist; der Weg einer Empfindung (nennen wir es «verletzte Mütterlichkeit»), der Weg eines Gründungsmythos (nennen wir ihn den von den «liebenden Mördern», die ewige Wie­derkehr jener Geister, die nicht wissen, ob sie den Tod oder das Leben bringen) kehrt auf seiner Reise durch die Erzählungen und Bilder seine Richtung um. Hinein in die Spiegelwelt ging es im ers­ten Teil, aus ihr heraus will Alice mit dem Schwert in Teil 2.

Wir erinnern uns: Bei den Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande veranstalteten Bill und seine Leute von der Viper-Killerorganisation ein schreckliches Massaker. Bill selbst, der Chef der Organisation und früherer Geliebter der Braut, schoss ihr in den Kopf. Sie fiel ins Koma, erwachte vier Jahre später und musste feststellen, dass sie ihr Kind verloren hatte und im Krankenhaus während ihrer mentalen Abwesenheit missbraucht worden war. So haben wir das Erwachen von Dornröschen auch noch nie gesehen. Im ersten Kapitel des neuen Films, das mit einer wundervollen John-Ford/Sergio-Leone-Hommage beginnt, kommt Bill als ungebetener Gast zur Hochzeitsprobe. Die Braut stellt Bill ihrem Bräutigam, einem freundlichen Verkäufer von gebrauchten Schallplatten, als ihren Vater vor. Bill spielt das Spiel, scheints, mit. David Carradines Bill ist cool wie Höllenfeuer, die Braut hat Angst vor diesem sanften Ungeheuer, aber sie steht noch immer in seinem Bann. Und dann beginnt das Morden. Die Geschichte fängt also insofern noch einmal neu an, als wir Bill nicht mehr als den fernen, sadistischen Bösewicht ansehen, sondern als einen gefährlichen Kerl mit Gefühlen. Jetzt wissen wir, dass das Massaker eine Folge der Liebe war. Wie es der Tragödie angemessen ist.

Die nächsten Kapitel behandeln die Fortsetzung des Rachefeldzuges. Zuerst muss die Braut mit Budd fertig werden, der sie lebendig begraben hat. Budd ist Bills kleiner Bruder. Während die Braut sich verzweifelt zu befreien sucht, schweift die Geschichte noch einmal zurück nach Asien, wo sie bei einem weisen Meister sehr effektive Kampftechniken und das Reisessen mit Stäbchen in zerschundenen Händen erlernte. Und dann muss die Braut noch Elle Driver besiegen, die böseste unter den Killer­Innen. Und das wird, im Wortsinne, so ziemlich der schmutzigste Teil des Films. Zu einer grossen Überraschung wird dann der finale Besuch bei Bill. Er knüpft an den letzten Satz in Vol. 1 an: «Weiss sie, dass ihre Tochter lebt?». Bill hat ein kleines Traumreich am Pazifischen Ozean errichtet, und dort begegnet die Braut ihrer Tochter, die lange schon sehnlich auf ihre wieder erwachte Mutter wartet, und Bill zeigt sich als fürsorglicher Daddy, der die hohe Kunst des Sandwichbereitens versteht. Was für eine hübsche, glückliche Familie für den Augenblick. Aber Mom und Dad sind liebende Mörder.

Es grenzt nicht an Unverschämtheit, was Tarantino mit uns anstellt, so zwischen Einfühlung und Verfremdung, Tragödie und Clownerie, es geht in seiner Unverschämtheit vielmehr weit über den Pakt hinaus, den das Kino mal mit seinen Gläubigen geschlossen hat. Kein fester Boden mehr, keine linearen Gleichungen zwischen Bewegung und Gefühl, keine verlässliche Ableitung von Tragödie und Farce ins Melodrama, kein Drei-Akt-Schema des Plots und keine innere Kontinuität. Man kann mit den Gefühlen der Zuschauer spielen wie auf einer Orgel, hat Alfred Hitchcock gesagt. Und Quentin Tarantino ist dabei beim Jazz angelangt. Beim Cool Jazz. Klar, dass so einer den Szenenapplaus schon in seinem Spiel miteinkalkuliert, klar, dass seine Soli immer auch etwas Narzisstisches haben. Es ist dennoch eine glückliche Rückkehr ins Tarantinoversum. Denn der Autor und Regisseur versteht es, uns mit genau den Tricks, die wir von ihm kennen, wieder zu verblüffen, aber aus immer neuen Kombinationen auch eine neue Qualität zu gewinnen. Das Spiel mit den Zitaten, die schräg eingeteilten, einander überlappenden Kapitel, die harten Schnitte zwischen dem Absurden und dem Anrührenden, die offene Verfremdung der filmischen Mittel, die Reibung zwischen Erzählfluss und einzelner Einstellung, die Comic-Strip-Beziehungen und das Einweben der Popsongs in Handlung und Charakteristik, die Verknüpfung beinahe jeder Szene mit anderen Szenen im Tarantinoversum und nicht zuletzt das untrügliche Gespür für die kosmische Komik, die im Zusammentreffen des Banalen und des Erhabenen entsteht.

Nur so ein Beispiel: Der furiose Endkampf zwischen der Braut und Elle Driver, der vor mythologischen Konnotationen nur so strotzt, findet in einem Wohnwagen in der Wüste statt. Die beiden bedienen sich dazu der bes­ten japanischen Schwerter, die je hergestellt wurden. Aber weil es in diesem schmuddeligen Wohnwagen des bekennenden Cowboys Budd, der obendrein noch tot am Boden herumliegt, einigermassen eng ist, haben die beiden Kämpferinnen immer wieder Schwierigkeiten, ihre Schwerter aus der Scheide zu ziehen oder bleiben im Schwung des blitzenden Stahls an Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs hängen. So etwas inszeniert Tarantino nicht als Running Gag im Vordergrund, sondern in schöner Beiläufigkeit in einem kinetischen Geschehen am Rand der Übersichtlichkeit.

In «Kill Bill» muss uns Tarantino nicht mehr beweisen, dass es keinen Widerspruch zwischen Trash und Kunst gibt. Er bewegt sich schon mit der neugierigen Gelassenheit eines Meisters in seinem eigenen Universum, wie Federico Fellini, wie John Ford, und er kann in dieser Meisterschaft ein paar Fragen stellen, das Leben und die Fiktionen betreffend, die schmerzender sein können, als es bei all dem kinetisch verschärften Zeichenspass zunächst scheinen mag. Wie zuhause sind wir denn noch in unseren Bildern? Man muss dazu Jean-Luc Godard und Superman-Comics gleichzeitig denken. Darauf reagieren, wie in der Kultur des Global Village das Fremde und das Vertraute nicht mehr an kulturellen Grenzen geschieden sind, sondern in den Produkten des konstanten Flusses der Codes und Sensationen wieder aufbrechen. Tarantino benutzt ja nicht nur die endlos zerfallende populäre Mythologie, unsere zweite Wirklichkeit, unsere Metaphysik, um aus ihren Trümmern sein eigenes Ding zu basteln. Er hat da eine gemeine Technik, mehrere Punkte im gleichen Augenblick so heftig zu berühren, dass etwas inwendig zerplatzt (diese Technik beherrscht übrigens auch die Braut).

Und während Tarantino sich im Chaos der Codes bewegt, rührt er dabei, anders als die meisten seiner Epigonen, immer wieder an sehr fundamentale Empfindungen. Es passieren lauter absurde und fantastische Dinge, und dauernd zeigt man uns, dass es sich dabei nur um Bilder, nur um Kino, nur um ein Spiel handelt. Früher nannte man so etwas «camp». Und beinahe im selben Moment geschehen Dinge, die wir alle nur zu gut kennen. Angst haben, verlassen werden, Cornflakes essen. Das Grauen und die Sehnsucht in der Fantasie von Familie. Dass die Braut getötet hat, was sie liebte, wird auch in der Ordnung der kleinen Dinge so deutlich wie in der Schleife zum Mutter-Tochter-Motiv der ersten Station ihres Rachefeldzuges. Dort stand sie bereits einer Frau gegenüber, die von einer Killerin zur Mutter zu werden versuchte. Alle Lebensmöglichkeiten werden nach der Flucht aus dem Krankenhaus (der Flucht vor dem Tod) durchmessen: Das von Konformitätsdruck gebildete Suburbia-Reihenhaus, der paradiesische Garten, das Low Life zwischen Trailer und Stripclub, das Krankenhaus, die Selbstfindung in der Reise in den Orient, die Konferenzzimmer der mafiosen Businessherrschaft. «Kill Bill» ist unter anderem eine Reise durch die Knotenpunkte von Bürgerlichkeit und Macht. Man kann den Film wie ein aberwitziges audiovisuelles Mixtape ansehen oder wie eine Montage der Urmärchen im Popgewand. Als Ineinanderstürzen von Geburtstrauma und Todesangst. Und ganz nebenbei ist es eine ziemlich tückische Geschichte von den Transformationen des Künstlerischen und des Familiären, des Wilden und des Bürgerlichen, ein Blick zurück und ein Blick nach vorn in der magischen Biografie des Quentin Tarantino. Die Geschichte vom schwarzen Vater, den es zu verjagen und zu bewahren gilt.

Noch mehr als bei David Lynchs «Blue Velvet» kann man bei «Kill Bill» vermuten, dass es sich bei all dem schrecklichen Geschehen um nichts anderes handelt als um die Inszenierung einer Fantasie gegen eine todkranke Melancholie. Eine Frau, die dem Tode nahe ist, träumt sich ins Leben zurück. Ist es der Film, in dem eine Frau tötet, was sie liebt, oder ist es der Film, in dem sich ein Mann, der sie liebt, fünfmal töten lässt, um sie zu retten? Oder noch einmal ganz anders herum: Nimmt man einmal all dieses Hauen, Stechen und Schiessen, die Genres, Zitate und Satiren fort, dann bleibt die Geschichte einer schwangeren Frau, die sich auf eine bürgerliche Ehe mit einem netten Nerd vorbereitet, als die Clique wieder auftaucht, mit der sie vordem um die Häuser gezogen ist. Um sie zu verabschieden oder um sie aus dem selbst gewählten Gefängnis zu befreien? Oder nur um noch einmal kräftig Zoff zu machen. Abenteuer sind Masken der Übergänge im Leben. Abgemacht, wenn es um das Ende der Kindheit geht. Als wäre das der letzte Übergang im Leben und deswegen das letzte Abenteuer! Und Abenteuer sind letztlich immer Albträume (und immer gibt es in ihnen einen Long John Silver, einen Lex Luthor, einen Indianer-Joe, einen Bill).

Rite de passage, hä? «Kill Bill» erzählt eine Liebesgeschichte mit dem Tod. Dornröschen, wachgeschossen. Und vielleicht ist ja «Kill Bill» auch nichts anderes als Tarantinos Art zu sagen, dass er sich eine Familie, dass er sich ein Kind wünscht, und dass er weiss, dass das eine ziemlich schwierige Angelegenheit wird, wenn er sich recht erinnert oder recht träumt. Ist aber letztendlich wurscht, denn ein Film erzählt uns ja nichts. Er ist eine Interpretationsmaschine, zu der lauter verschiedene Gebrauchsanweisungen herumliegen. Nützliche, schöne, sogar gefährliche. Und wenn man erst einmal anfängt, mit einer Maschine wie «Kill Bill» herumzuspielen ... Da gibts kein ENDE.

Kill Bill Vol. 2. Regie: Quentin Tarantino. USA 2004