«Joker»: Lacht er noch, oder weint er schon?
Als Batman noch ein Bub war und sein schillerndster Widersacher bei Mama wohnte: Joaquin Phoenix zeigt den Joker als gefährdeten Narzissten – und stilisiert ihn so zu einer unheiligen Ikone unserer Zeit. In Venedig gabs dafür den Goldenen Löwen.
Die traurigste Szene in diesem Film über einen Clown beginnt damit, dass er hastig den Kühlschrank leert. Erst räumt er die wenigen Lebensmittel aus und wirft sie achtlos auf den Küchenboden, dann zerrt er alle Schubladen und Einlagen heraus. Als der Kühlschrank endlich leer geräumt ist, klettert der Mann hinein und schliesst die Tür hinter sich (es klappt erst beim zweiten Anlauf).
Ein himmeltrauriges Bild ist das, wie die Kamera nun allein zurückbleibt und in diese ärmliche Küche blickt. Der Kühlschrank als Refugium vor der fiebrigen Brutalität der Stadt draussen, zugleich der einsamste Ort der Welt.
Und das soll nun der Film sein, zu dem die US-Armee unlängst eine Warnung für den Kinobesuch verschickt hat? «Wenn Sie einen Saal betreten, lokalisieren Sie zwei Fluchtwege, und achten Sie auf Ihre Umgebung», heisst es in dem Memo, das an Angehörige des Militärs ging. Die projizierte Gefahr: Amokschützen könnten die Affiche von «Joker» als Einladung missbrauchen. Wie einst im Juli 2012, als ein junger Mann namens James Holmes in einem Kino in Colorado ein Massaker anrichtete – mit 12 Toten und 58 Verletzten in einer Spätvorstellung des Batman-Films «The Dark Knight Rises».
Wahnsinn, nicht?
Nun könnte man sagen: Wenn die Armee vor einem Film warnt, spricht das ja zunächst einmal für den Film. Aber vielleicht möchte man auch einfach mit einem Verdacht von Arthur Fleck antworten, wie die Titelfigur in «Joker» mit bürgerlichem Namen heisst: «Is it just me or is it getting crazier out there?»
Diesen Befund, dass die Welt in den Irrsinn abgleitet, scheint der Film laufend zu bestätigen – auch ausserhalb dessen, was er erzählt, und nicht nur wegen militärischer Memos. Das fängt bei Todd Phillips an, dem Regisseur von «Joker», der sich bislang vor allem mit mehr oder weniger vulgären Komödien über die verlängerte Pubertät triebgesteuerter Kerle hervorgetan hat, von «Road Trip» bis «The Hangover» samt seinen zwei Fortsetzungen. Hätte man damals vorausgesagt, dass dieser Mann dereinst in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet würde, notabene von einer Jury unter dem Vorsitz der argentinischen Regisseurin Lucrecia Martel, die nun wirklich nicht im Verdacht steht, einem populistischen Kino zu huldigen: Man wäre mindestens verlacht oder für nicht ganz zurechnungsfähig erklärt worden. Der Goldene Löwe geht an den «Hangover»-Regisseur für einen Film über eine Comicfigur aus dem Batman-Universum: Wahnsinn, nicht?
Oder einfach ein schlechter Scherz. Aber nein, diese Auszeichnung ist kein Indiz dafür, dass die Massstäbe irgendwie verrückt oder ins Rutschen geraten sind. Ein 55-Millionen-Budget und ein grosses Studio im Rücken: «Joker» ist ein Hollywoodfilm, aber einer, wie es ihn mittlerweile nur ganz selten gibt, nämlich zu gleichen Teilen Provokation und Popcorn. Also absoluter Mainstream, zugleich aber eine böse Fantasie, die wie in einer Sprengkapsel das kulturelle Klima unserer Zeit komprimiert. Ein subtiler Film ist das nicht, gleichwohl funktioniert er wie eine vieldeutige Echokammer, die die Obsessionen der Gegenwart verstärkt und zurückwirft. Dieser «Joker» ist plakativ, widersprüchlich und so faszinierend wie verstörend. Und mit seiner Hauptfigur erschafft er eine grosse, unheilige Ikone für unsere Zeit.
Darauf verweist schon der allererste Satz im Film: «The news never ends.» Nachrichten nonstop: Ist das nun Verheissung oder Drohgebärde? Jedenfalls verankert dieser Spruch den Film von Anfang an in einer doppelten Zeitlichkeit. «Joker» spielt im Dezember 1981, als in New York City die Kehrichtabfuhr streikte, und der Film will offenkundig auch als Hommage an das schmutzige Kino jener Zeit gesehen werden, wenn er zentrale Motive aus Martin Scorseses Meisterwerken «Taxi Driver» und «The King of Comedy» verschränkt.
Aber 1981 war auch das Jahr, als mit Ronald Reagan der Neoliberalismus ins Weisse Haus einzog, und im Jahr davor war CNN auf Sendung gegangen, der erste TV-Kanal mit Nachrichten rund um die Uhr. «The news never ends», das war damals noch ein grossspuriges Werbeversprechen – heute ist es die lapidare Zustandsbeschreibung für eine Welt der nie versiegenden News im Netz. So macht diese Parole in «Joker» unmissverständlich klar: Dieser Film spielt immer auch jetzt, heute.
Gute Miene zur Misere
Und Batmans designierter Widersacher, mit bodenloser Grandezza verkörpert von Joaquin Phoenix, ist in dieser biografischen Herleitung unverkennbar als prekäres Kind unserer Tage angelegt. Psychiatrische Vorgeschichte, kaum soziale Kontakte, gepeinigt an allen Fronten: So verdingt sich dieser Arthur Fleck zu Beginn als Mietclown, der gute Miene zur wirtschaftlichen Misere macht. «Alles muss weg» steht auf der gelben Tafel, mit der er zum Konsum animieren soll, vor einem Laden, der Konkurs gegangen ist. Ausverkauf wegen Insolvenz, Ausverkauf der Moral: Kurz darauf wird der Clown in seinem Kostüm von ein paar Jungs brutal verprügelt, nur so zum Spass, nachdem sie ihm das Schild geklaut haben.
Als Fleck dann neben seiner Mutter (Frances Conroy) daheim vor dem Fernseher sitzt, träumt er sich ins Rampenlicht, als Gast in der Comedyshow seines Idols, gespielt von Robert De Niro. Unser Clown wäre selber so gern ein Komiker, sein Problem ist nur, wie seine Mutter richtig anmerkt: Er ist nicht komisch. Schlimmer noch: Fleck verfällt immer in den unpassendsten Momenten in ein bitteres Gelächter, angeblich eine neurologische Störung. Da wird er nur von einer Mutter im Bus gemassregelt, weil er ihr Kind aufheitern wollte, prompt schüttelt es ihn vor Lachen.
Es ist ein Tourette der Verzweiflung, das immer wieder aus ihm herausbricht, wobei man bald nicht mehr weiss: Lacht er noch, oder weint er schon?
Tanz vor dem Spiegel
Wie Joaquin Phoenix das alles spielt: Klar, ein Ereignis. Erst ist da schiere Verlorenheit, wie Fleck vor dem Schminkspiegel die Farbe aufträgt und den Mund mit den Fingern brutal zu einem Grinsen spannt, weil ihm gar nicht zum Lachen ist. «Smile and put on a happy face», pflegt seine Mutter zu ihm zu sagen, ein sehr amerikanischer Imperativ der guten Laune, den Fleck nur als Clown wirklich befolgen kann: Das fröhliche Gesicht macht sich ja eben nicht von selbst, also muss er halt buchstäblich eins auftragen, mit Schminke. Später dann bewegt sich Phoenix in seinem Spiel jenem unsichtbaren Grat entgegen, wo man die Verzweiflung seiner Figur und die Gefahr, die darin lauert, kaum mehr auseinanderhalten kann. Etwa wenn er allein auf einer öffentlichen Toilette vor dem Spiegel tanzt, wie im Rausch über seinen ersten blutigen Akt der Selbstermächtigung gegen drei Wall-Street-Banker, die ihn verprügelten.
Wer in diesem Tanz oder in dem zwanghaften Gelächter des Joaquin Phoenix nur die Manierismen eines entfesselten Schauspielers erkennt, der um seinen überfälligen ersten Oscar bettelt, übersieht hier das Entscheidende: Dem Joker geht es ja gerade um eine penetrante Form von Showmanship, seine Manierismen verleihen ihm erst Substanz. Und in dem Moment, in dem die Verwandlung des Arthur Fleck zum Joker vollzogen ist, stellt sich ein verblüffender Überblendungseffekt ein: Wie Phoenix da eine steile Treppe herabtänzelt, als sei die ganze Stadt eine Bühne für seine Show, geht er schier nahtlos in einen anderen grossen Joker über, dem er hier, als elastischer Spastiker, plötzlich zum Verwechseln ähnlich sieht. Man meint jetzt fast, wieder den unvergessenen Heath Ledger aus «The Dark Knight» (2008) zu sehen, aber in einem früheren Stadium, als sein Joker noch nicht so kaputt und seine Schminke noch frisch war.
Terror ohne Mission
Damals, in den Jahren nach 9/11, bediente Ledgers Joker in seiner programmatischen Unberechenbarkeit die Angst vor dem Terror. Seine böse Mission bestand darin, dass er gar keine Mission hatte, ausser der Unruhe, die er stiften wollte. Jetzt, wo der neue Film eine Vorgeschichte des Jokers nachliefert, notiert Arthur Fleck in sein Tagebuch: «Ich hoffe bloss, dass mein Tod mehr Sinn ergibt als mein Leben.»
Man kennt solche Sätze. Sie stehen so oder ähnlich in den Schriften, die junge Männer hinterlassen, wenn sie irgendwo ein Blutbad angerichtet haben, weil ihnen die Anerkennung versagt blieb, auf die sie ein Recht zu haben glaubten. Einmal im Leben doch Herr über sein eigenes Dasein sein, und sei es in der suizidalen Allmachtsfantasie eines Massenmords! Als «Helden» hat der italienische Philosoph Franco «Bifo» Berardi solche Amoktäter in seiner gleichnamigen Studie über Massenmord und Suizid beschrieben: prekäre «Helden eines nihilistischen Zeitalters», das nur GewinnerInnen kennt und von allen anderen nichts wissen will. Leidende Menschen, die sich in einem mörderischen Spektakel an die Öffentlichkeit richten, um «die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zu ziehen», um auf diese Weise «endlich aus der Hölle ihrer Existenz herauszufinden», wie Berardi schreibt. Genau so eine Figur ist der Joker von Joaquin Phoenix.
Oder wie der Schauspieler selber in einem Interview mit «Spiegel Online» sagte: «Der Joker ist vor allem ein Narzisst.» Einer, der sich nicht um politische Bewegungen schere, dem es auch nicht um irgendwelche umstürzlerischen Ideen gehe, sondern einzig und allein um Anerkennung, um die Bestätigung seines Selbstbildes: «Wenn die Realität damit nicht in Einklang zu bringen ist, stilisiert er sich selbst zum Opfer.» So hat Phoenix seine Figur, ohne dabei das Wort in den Mund zu nehmen, fast schon exemplarisch als «Incel» charakterisiert.
Incels, so bezeichnen sich Männer, die unfreiwillig im Zölibat leben, die also keinen Sex bekommen, obwohl sie überzeugt sind, dass ihnen eigentlich welcher zustünde. Tatsächlich spiegelt Arthur Fleck zu weiten Teilen das einschlägige Profil eines Incel. Seine übersteigerte Anspruchshaltung als Möchtegernkomiker kollidiert mit der ernüchternden Wirklichkeit, dass ihm jegliches Talent dazu fehlt. Er wird immer wieder gehänselt, geplagt oder gar verprügelt, auf der Strasse, in der Garderobe oder nachts in der U-Bahn. Seine einzige Vertrauensperson neben seiner verwirrten alten Mutter ist eine Sozialarbeiterin (Sharon Washington), die ihn psychologisch betreut. Und er behelligt seine Nachbarin (Zazie Beetz), der er sich gleich romantisch verbunden fühlt, weil sie ihm nicht so abschätzig begegnet, wie er das gewohnt ist.
«Wir sind alle Clowns!»
Wenn jetzt in etlichen Kritiken unweigerlich die Befürchtung geäussert wird, dass dieser Joker zum Posterboy für Incels werden könnte, muss man sagen: Leider ja, vermutlich wird er das. Aber soll man das diesem Film ernsthaft zum Vorwurf machen, wenn seine Titelfigur den falschen Leuten zum Idol wird?
Man könnte es auch umgekehrt sehen: «Joker» ist Hollywoods Versuch, die Autorschaft über seine Fiktionen zurückzuholen. Die Figur des irren Clowns war zuletzt ja gleichsam von James Holmes, dem psychisch kranken Todesschützen von Colorado, gekapert worden. Als mörderischer Joker wollte er im Kino die Trennung zwischen Publikum und Film aufheben, wie Berardi in seinem Buch schreibt: «Er wollte Teil des Films sein.» Der Film von Todd Phillips holt den Joker nun wieder dorthin zurück, wo er hingehört: auf die Leinwand, in die Fiktion.
Politisch ist dieser «Joker» ohnehin viel zu widersprüchlich, als dass er sich auf irgendeine eindeutige Ideologie, ob reaktionär oder nicht, zurüsten liesse. Insofern funktioniert er ganz ähnlich wie etwa «American Psycho», Mary Harrons mörderische Wall-Street-Satire nach dem gleichnamigen Roman von Bret Easton Ellis. In mancherlei Hinsicht wirkt der Joker sogar wie die groteske Spiegelfigur zu Patrick Bateman, dem geschniegelten Banker aus «American Psycho». Bateman reinigt sein Gesicht zwanghaft mit allerlei kosmetischen Masken und legt so tagtäglich ein grosses eitles Vakuum frei, wo sein Ich sein sollte; umgekehrt findet Arthur Fleck gerade in der Schminke, die sein Gesicht verdeckt, zu einer erfüllten Identität. Und so, wie Bateman als erstes Opfer einen Penner ermordet, tötet Fleck als Erstes die drei Banker, die auf ihn einprügeln, weil er für sie nur ein versiffter Freak ist.
So wird der Clown zum gesuchten Phantom von Gotham City. Zum Volkshelden, zu einer Ikone des Klassenkampfs auch, wird er erst viel später – und er kann nicht einmal viel dafür. Es ist nämlich Batmans schwerreicher Vater, der Banker Thomas Wayne (Brett Cullen), der den mörderischen Clown zum Idol der Unterprivilegierten erhebt. Wayne will Bürgermeister werden, damit endlich jemand aufräumt in der Stadt und damit auch mal Schluss ist mit den Ressentiments gegen die Reichen. So beschimpft er im Fernsehen den geschminkten Mörder als Feigling – und verhöhnt im gleichen Atemzug all jene, die es im Leben zu nichts gebracht haben, als «Clowns».
Man hört hier unweigerlich den selbstgerechten reichen Rüpel namens Donald Trump heraus. Aber in der Szene steckt auch ein Echo auf Hillary Clinton und ihre Schmähung der «deplorables», die sie im Wahlkampf gegen Trump damit erst recht gegen sich aufbrachte. So schweisst auch der Banker in «Joker» mit seiner Beschimpfung der «Clowns» unfreiwillig die Massen zusammen und mobilisiert sie zum Protest: «Wir sind alle Clowns!» lautet dann der solidarische Schlachtruf in den Strassen – und mittendrin Arthur Fleck, inkognito, in diebischer Freude über den Aufstand, zu dessen Galionsfigur er ohne sein Zutun geworden ist.
Flirt mit dem Chaos
Sein «Joker» sei übrigens kein politischer Film, sagt Todd Phillips. Aber das klingt wie die Schutzbehauptung eines Regisseurs, der sich gegen das politische Unbewusste seines Films absichern will, zumal er damit auch nur seiner nihilistischen Hauptfigur nachplappert: «Ich bin nicht politisch», sagt ja der Joker im Film. Überzeugungen habe er keine, er wolle einfach die Leute zum Lachen bringen. Und weil es ihm mit Scherzen nicht gelingt, versucht ers halt mit Gewalt.
Soll man dem Film deshalb vorwerfen, er stehle sich aus der Verantwortung, wenn er seine amoralische Hauptfigur in ihrer ganzen Ambivalenz schillern lässt? Nur weil dieser «Joker» das böse Tun seiner Titelfigur aus einer sozialen Leidensgeschichte herleitet, heisst das ja nicht, dass deren Gewalttaten damit legitimiert würden. Was man Regisseur Todd Phillips eher ankreiden könnte, ist, dass sein Film nicht ganz so schmutzig, zynisch und gefährlich ist, wie er das vielleicht gern hätte. Er kokettiert zwar mit dem rauchenden Chaos, das der Joker auslöst, aber in dem ganzen nihilistischen Brimborium schimmert gleichwohl ein humanistischer Kern durch.
«Is it just me or is it getting crazier out there?» Fleck richtet diese Frage anfangs an seine Sozialarbeiterin, aber seine nächste Sitzung bei ihr ist dann schon die letzte – die Stadt hat ihre Stelle weggespart. Psychologische Betreuung weg, Medikamente weg: Es ist ein erster Kippmoment dafür, dass Fleck vollends in seinen bösen Wahn abgleitet. So kommts heraus, wenn eine Gesellschaft bei den sozialen Leistungen spart und ihre Problemkinder sich selbst überlässt. Ein sehr sozialdemokratischer Film, dieser «Joker».
Joker. Regie: Todd Phillips. USA 2019