Familienhorror: Odyssee zu Mama

Nr. 17 –

Komplexhäuflein auf ganz grosser Reise: Gut möglich, dass «Beau Is Afraid» mit Joaquin Phoenix der verrückteste Film der Saison ist. Aber ist er auch mehr als das?

Filmstill aus dem Film «Beau Is Afraid»: ein lädierter Beau (Joaquin Phoenix) erwacht als Kuckuckskind im Zimmer eines Teeniemädchens
Wie ist der denn hier gelandet? Ein lädierter Beau (Joaquin Phoenix) erwacht als Kuckuckskind im Zimmer eines Teeniemädchens. Still: Ascot Elite

Unter den angeberischen Kameraeinstellungen, wie sie vor allem bei männlichen Regisseuren zu beobachten sind, gibt es einen speziell penetranten Typus. Nennen wir es die intrauterine Kamera. Zu bestaunen war sie etwa bei Gaspar Noé, der es einst in «Enter the Void» für eine geile Idee hielt, einen Zeugungsakt aus der Perspektive des Muttermunds zu inszenieren. Da stösst einem dann in Grossaufnahme ein penetrierender Penis entgegen, und man kommt sich im Kino vor wie in einer Gebärmutter kurz vor der Befruchtung.

Der neue Film von Ari Aster zeigt jetzt, sozusagen als Antwort, was neun Monate später passiert: Penetration in der Gegenrichtung. «Beau Is Afraid» beginnt also mit einer Geburt aus der Perspektive des Säuglings im Mutterbauch. Zuerst ist das Bild quasi blind, fast nichts zu sehen, dann aufgeregte Stimmen wie von weit weg, diffus, panisch, irgendwie auch bedrohlich. Die Pointe kommt mit der nächsten Einstellung. Denn nach der Geburt des Titelhelden überspringt der Film mal eben ein halbes Leben und landet direkt mit ihm in der Psychotherapie. Joaquin Phoenix sitzt als Häuflein Elend bei seinem Therapeuten, ein einziger wandelnder Mutterkomplex, und auch sein Name verfolgt ihn wie ein schlechter Witz: Beau, so heisst der Mann.

Draussen regiert der Irrsinn

In dem eigenartig verrückten Kino von Ari Aster wohnt der Horror seit jeher in der Familie. Sein unheimlicher Erstling «Hereditary» (2018) machte diese Erblast schon im Titel deutlich. Danach, in «Midsommar» (2019), suchte eine trauernde Studentin Zuflucht in einem schwedischen Heidenkult und musste dabei erleben, dass eine Sekte als Ersatzfamilie nicht unbedingt gesünder ist. Ausgehend von einem frühen Kurzfilm über einen Mann, der sich nicht aus der Wohnung traut, hat der 36-jährige Autor und Regisseur seine Kernmotive nun aufs Wesentliche reduziert – und zugleich auf ziemlich anmassende drei Stunden aufgeblasen.

«Beau Is Afraid» ist letztlich eine Hiobsgeschichte um einen gigantischen Ödipuskomplex: ein langer, ausschweifender Leidensparcours, nur dass die strafende Instanz der Liebe, die diesen Hiob namens Beau aus übermässiger Fürsorge auf die Probe stellt, hier nicht Gott heisst. Sondern eben Mama.

Und der Weg zu ihr ist für Beau gepflastert mit Störungen. Die erste Stunde des Films ist ein einziger Reigen von Ängsten und Neurosen. Der Alltag ein Albtraum, als hätte man dem frühen Woody Allen die falschen Psychopharmaka verschrieben: «Der Stadtneurotiker», aber als Horrorgroteske. Draussen in den Strassen regiert der nackte Irrsinn, und dann macht Beau auch noch den Fehler, dass er dieser ganzen verkommenen Aussenwelt die Tür öffnet. Anderntags die Nachricht: Mutter ist gestorben.

Bald darauf wacht Beau als Patient in einem fremden Teeniemädchenzimmer auf. Wie ein jüdisches Kuckuckskind wird er hier umsorgt von einer All American Family mit auffälligem Pillenkonsum und interessanter Verdrängungsleistung: Die Mutter setzt ihren im Krieg gefallenen Sohn als Fotopuzzle wieder zusammen, derweil treibt im Garten ein psychotischer Kriegsveteran, den sie bei sich aufgenommen haben, sein Unwesen.

So viele Ideen, so viele Abwege

Da sind wir erst knapp in der Hälfte. Es folgt dann noch eine feierliche Lebensreise zwischen gemalten Kulissen, und alle diese Umwege führen dazu, dass Beau schändlicherweise die Abdankung seiner Mutter verpasst und nur noch ein Video davon zu sehen bekommt. Und irgendwo im dunklen Oberstübchen dieses Films hockt auch noch ein träges Ungetüm, das aussieht, wie wenn man Jabba the Hutt aus «Star Wars» mit dem Albtraum eines Urologen gekreuzt hätte.

«Bitte, sagen Sie mir, was tue ich hier?» So wird Beau einmal von jemandem gefragt, der mit ihm im Publikum eines Wandertheaters sitzt. Sehr gute Frage. Ausser Frage steht jedenfalls, dass «Beau Is Afraid» eine grandiose Zumutung ist. Ari Aster selber hat den Film wahlweise als jüdische Version von «Lord of the Rings» beschrieben oder auch als Shoppingtour eines zehnjährigen Jungen, den man mit Antidepressiva vollgepumpt hat. Angesichts des irrsinnigen Aufwands, der hier betrieben wird, bloss weil ein erwachsenes Baby namens Beau ein Problem mit seiner Mutter hat (oder sie seit seiner Geburt zu viel Angst um ihn), könnte man auch sagen: krasser Verhältnisblödsinn, dieser Film. So viele Ideen und so viele Abwege, aber alle führen zu Ödipus, zur übermächtigen jüdischen Mama.

Doch auch wenn Ari Aster den wahnwitzigen Sog der ersten Stunde nicht ganz durchhält: Etwas ermüdend an dieser ödipalen Odyssee ist eigentlich nur Joaquin Phoenix. Allzu gleichförmig leidend hangelt er sich hier durch die ganze Heldenreise, was auch daran liegt, dass die Figur gar nicht viel anderes zulässt.

Im Video der Abdankung heisst es einmal über Beaus Mutter: «Ihre Liebe für ihren Sohn konnte Berge versetzen.» In diesem Film kann man so etwas nur als Drohung verstehen. Und als Beau endlich seine Urangst überwindet und im Bett seiner Mutter (wo sonst) tatsächlich zum ersten Mal Sex hat, läuft dazu viel zu laut eine Schnulze von Mariah Carey: «Always Be My Baby». Klingt erst recht wie eine mütterliche Drohung.

«Beau Is Afraid». Drehbuch und Regie: Ari Aster. USA 2023. Jetzt im Kino.