Durch den Monat mit Sarah Bütikofer (Teil 3): Können Forschende sich verständlich ausdrücken?

Nr. 42 –

Als Herausgeberin der Onlineplattform «DeFacto» bewegt sich Politologin Sarah Bütikofer ständig an der Schnittstelle zwischen Fachwelt und Öffentlichkeit. Analytische Schnellschüsse am Wahlsonntag findet sie allerdings unangebracht.

«Die Berichterstattung über Umfragen kommt oft wie eine sichere Wahlausgangsprognose daher, was aber nicht den Tatsachen entspricht»: Sarah Bütikofer in einem SRF-Radiostudio.

WOZ: Frau Bütikofer, wie gut ist die Vorwahlberichterstattung in der Schweiz?
Sarah Bütikofer: Mir fällt vor allem auf, dass auf Basis von Umfragen weitreichende Schlüsse gezogen werden, obwohl die prognostizierten Gewinne und Verluste der Parteien oft im statistischen Unschärfebereich liegen.

Den Medien bietet das wenigstens ein bisschen Orientierung und knackige Schlagzeilen.
Klar, Umfrageergebnisse sind attraktiver als trockene Analysen über Wahlarithmetik. Auch die Parteien und einzelne Kandidierende stützen sich bei der Mobilisierung darauf. Der Markt in der Schweiz ist aber sehr klein, die Umfragen werden von einigen Medienhäusern in Auftrag gegeben und nur von wenigen privaten Anbietern durchgeführt. Es herrscht also nicht so viel Wettbewerb, auch nicht unter den Analysemethoden.

Was bedeutet das?
An den Umfragen, die über die jeweiligen Medienportale gemacht werden, kann teilnehmen, wer will. Das generiert zwar eine riesige Datenmenge, ist aber bei weitem nicht repräsentativ für die Bevölkerung – schon gar nicht auf kantonaler Ebene, wo mittlerweile auch isolierte Umfragen zu National- und Ständeratswahlen durchgeführt werden. Es kommen ausgeklügelte Gewichtungsverfahren zur Anwendung, die aber häufig nicht im Detail erläutert werden. Und dann kommt die Berichterstattung über Umfragen oft wie eine sichere Wahlausgangsprognose daher, was aber nicht den Tatsachen entspricht.

Einen spielerischen Zugang bietet der sogenannte Prognosemarkt auf der politikwissenschaftlichen Onlineplattform «DeFacto» , deren Herausgeberin Sie sind. Was soll dieser Prognosemarkt?
Er ist Teil eines internationalen Forschungsprojekts, in dem Wahl- und Abstimmungsdynamiken untersucht werden. Politikinteressierte können Aktien von Wahlergebnissen für den National- und Ständerat mit fiktivem Geld kaufen. Die Forschenden wollen weniger den Wahlausgang vorhersagen als vielmehr untersuchen, wie sich die Prognosen während des Wahlkampfs entwickeln.

Auf «DeFacto» bereiten Forschende ihre Ergebnisse, die sonst in Fachpublikationen erscheinen, für ein etwas breiteres Publikum auf. Für wen eigentlich?
Nicht für die ganz breite Öffentlichkeit, unsere Beiträge setzen in der Regel Vorwissen voraus. Unsere Leserinnen und Leser sind vornehmlich Medienschaffende, Verwaltungsangestellte, Personen aus Parteien, Verbänden, NGOs und Kommunikationsagenturen sowie Forschende und Studierende, auch aus anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen.

Sind Komplexität und Verständlichkeit Gegensätze, die sich ausschliessen?
Eine Komplexitätsreduktion ist sicher nötig. Aber unsere Autorinnen und Autoren schreiben ja über ihre eigenen Publikationen – und entscheiden deshalb selbst, wo sie diese Reduktion vornehmen. Sie haben keine mediale Geschichte im Kopf, wenn sie ihre Forschungsresultate zusammenfassen.

Von Redaktor zu Redaktorin: Können Forschende sich verständlich ausdrücken? Oder müssen Sie stets alles komplett umschreiben?
Das ist sehr unterschiedlich, aber es ist für die meisten eine Übungssache. Wir haben auch überhaupt nicht den Anspruch, dass sich die Texte wie Zeitungsartikel lesen. Aber vor allem bei der Methodik ist viel Übersetzungsarbeit nötig: Insbesondere in der empirisch-analytischen Forschung ist der quantitative Teil in den letzten Jahrzehnten sehr viel komplexer geworden. Für Personen ausserhalb spezifischer Forschungsgebiete ist es kaum mehr möglich, die angewandten Methoden im Detail nachzuvollziehen. Diese Prozesse müssen unsere Autorinnen und Autoren stark vereinfacht beschreiben, auch wenn es dann immer noch wissenschaftlich klingen darf.

Zurück zum kommenden Wahlsonntag: Auch da werden wieder Leute aus der Politikwissenschaft in den Medien zu Wort kommen, um die Resultate zu kommentieren. Was lässt sich zu diesem Zeitpunkt denn überhaupt sagen?
Man kann die Veränderungen der Parteienstärken, die konkreten Sitzgewinne und -verluste, die Situationen in einzelnen Kantonen, mögliche Auswirkungen auf die Kräfteverhältnisse im Parlament sowie die unterschiedlichen Wahlbeteiligungen nach Wohnorten aufzeigen. Zudem lässt sich auch auf die eine oder andere Hypothese, die während der Wahlkampagne aufgestellt wurde, auf der Grundlage von Wahltagsbefragungen, sogenannten «exit polls», eingehen. Politologen verfügen zudem über theoretisches Wissen und haben Kenntnisse von Analysen früherer Wahlen, wodurch sie die Wahlresultate grob einordnen können.

Für mich als Wähler wirkt es fast so, als würde mir ein Experte schon am Sonntag im Fernsehen erklären, warum ich wie gewählt habe.
Fallstudien von einzelnen Wählenden macht eigentlich niemand. Und am Wahltag selbst ist es unmöglich, das Ergebnis abschliessend zu erklären. Denn dafür braucht die Wahlforschung sehr viele Daten – und für die Auswertung entsprechend Zeit.

Sarah Bütikofer (43) erklärt viel lieber Fakten, als für Medien Prognosen abzugeben. Am Sonntag wagt sie aber zum ersten Mal den Spagat und kommentiert den Wahltag auf dem Onlinenewsportal «Watson».