Durch den Monat mit Sarah Bütikofer (Teil 5): Sehnen sich Politologinnen nach Harmonie?
Die zweiten Wahlgänge für den Ständerat seien in manchen Kantonen spannender als üblich, sagt Politikwissenschaftlerin Sarah Bütikofer. Vom Ausgang hänge auch ab, ob das neue Parlament klimapolitisch vorwärtskomme.
WOZ: Frau Bütikofer, die Grünen haben in der Vergangenheit grosse Konjunkturschwankungen erlebt. Sind die Gewinne diesmal von Dauer? Die Klimakrise wird ja nicht so schnell versanden, ganz im Gegenteil.
Sarah Bütikofer: Das hängt davon ab, wie sie nun im Parlament agieren. Den Grünen – wie auch den Grünliberalen – kommt mit der neuen Stärke mehr Verantwortung in Richtung Problemlösung und Allianzenschmieden zu. In vier Jahren werden sie dann auch stärker an ihren Erfolgen denn an ihren Versprechen gemessen.
Eine Vertretung in der Exekutive würde sicher helfen, Resultate zu erzielen. Was könnte eine grüne Bundesrätin konkret bewirken?
Bundesräte haben in der Schweiz eine Doppelrolle: Zum einen sollen sie ein Departement leiten, zum anderen als Teil eines Kollektivs die politische Führung des Landes übernehmen. Auch im Bundesrat kommt es bei umstrittenen Geschäften letztendlich auf die Mehrheiten an. Folglich könnte eine weitere ökologische Stimme sicherlich entsprechende Vorlagen vorantreiben, sofern das gesamte Gremium diese auch unterstützt und das Parlament keinen unüberwindbaren Widerstand leistet. Allfällige Referenden können damit natürlich nicht ausgeschlossen werden.
Gegner fordern, dass sich die Grünen erst mal gedulden und im Parlament beweisen sollen.
Sie argumentieren aus einer schweizerischen Tradition heraus: Die Konkordanzdemokratie verlangt zwar nach einem Bundesrat, der die Mehrheiten des Parlaments abbildet, gleichzeitig aber auch eine gewisse Stabilität garantiert. Da wir nur sieben Ministerien zu besetzen haben, ist dies eine komplexe Angelegenheit, und sie wird nicht einfacher, wenn mehr Parteien über längere Zeit ungefähr gleich hohe Wähleranteile haben.
Wird es künftig eine höhere Fluktuation bei der Besetzung des Bundesrats geben?
Bisher war die Schweiz dank ihrer politischen Stabilität gut unterwegs. Diesen Standortvorteil will wohl niemand opfern. Aber die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesrats ist sicher nicht mehr so sakrosankt wie früher, auch wenn mit der CVP und der FDP zwei Parteien ein Jahr vor den Wahlen noch Tatsachen zu schaffen versuchten. Genauso wenig muss er übrigens zwingend aus sieben Sitzen bestehen.
Was bedeuten die Verschiebungen im Parlament für das Verhältnis zwischen den Kammern? Der Ständerat galt lange als muffig, wurde zuletzt aber zu einer Art Korrektiv des rechtskonservativ dominierten Nationalrats.
Der Ständerat ist ja noch nicht komplett, und in diesem Jahr ist der zweite Wahlgang keineswegs überall bloss eine reine Formsache. Im Gegenteil, in etlichen Kantonen ist der Ausgang eher ungewiss: etwa im Wallis, im Aargau, in der Waadt, in Bern, Baselland und Genf. Wo der Ständerat im Vergleich zum Nationalrat steht, wird sich also erst noch zeigen. Als Kammer ist der Ständerat dem Föderalismus verpflichtet, was es bisweilen schwierig bis unmöglich macht, weitreichende Regulierungen auf nationaler Ebene voranzubringen. Wenn aber in beiden Räten gleiche Mehrheitsverhältnisse herrschen, können durchaus schneller tragfähige Lösungen erarbeitet werden, als wenn es dazu nach zähen Diskussionen in beiden Kammern am Ende noch eine Einigungskonferenz braucht.
Apropos Kompromissfähigkeit: Gibt es in der Politologie eigentlich einen Hang zur selbsterklärten «vernünftigen Mitte»?
Ich kenne nicht die politischen Positionen aller Kolleginnen und Kollegen, würde aber meinen, es gibt eine ziemliche Vielfalt. Auf Ihre Frage würde meine Zunft aber zurückfragen: Was ist denn bitte schön diese «vernünftige Mitte»?
Das Klischee sieht beispielsweise so aus: Man ist gebildet und gut situiert, gesellschaftlich progressiv, weiss um die Dringlichkeit des Klimawandels – möchte deswegen aber nicht gleich das ganze System aus den Fugen heben, weil man darin ja ganz gut lebt.
Ich sehe, was Sie meinen: Es ist das Klischee einer urbanen, gut gebildeten Bevölkerung westeuropäischer Städte. Das ist, glaube ich, eine ziemliche Minderheit in der Welt. Velowege, Kinderkrippen und Minergiegenossenschaftswohnungen sind nicht die dringendsten Bedürfnisse aller Menschen. Klimapolitik ist eine globale politische Herausforderung, da prallen ziemlich breit gestreute Positionen aufeinander. Nachhaltige Massnahmen zum Schutz der natürlichen Ressourcen müssten auf politischer Ebene durchgesetzt werden und würden konkrete Verhaltensänderungen verlangen sowie die heute gelebte Normalität ziemlich infrage stellen.
Ganz harmonisch werden echte Lösungen also kaum zustande kommen. Darum nochmals zu meinem Vorurteil: Sehnen sich Politologinnen und Politologen nach politischer Harmonie?
Gemeinsam ist den Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern an den Universitäten meiner Meinung nach viel eher, dass sie zum Gegenstand «Politik» eine professionelle Distanz wahren. Sie können die eigene Überzeugung bei der Arbeit in den Hintergrund stellen.
Hiermit entlassen wir Sarah Bütikofer (43) wieder in die Forschung: Aktuell befasst sich die Politologin mit dem Abstimmungsverhalten unserer StänderätInnen.