Durch den Monat mit Sarah Bütikofer (Teil 4): Fühlen Sie sich in Ihrer Skepsis bestätigt?

Nr. 43 –

Die Auswertung der Wahlen hat für Politologin Sarah Bütikofer gerade erst begonnen. Was sich aber bereits jetzt sagen lässt: Weniger Wechselbewegungen als vielmehr die Mobilisierung von NeuwählerInnen hat diesen Sonntag zum historischen Tag gemacht.

Sarah Bütikofer: «Im stark fragmentierten Mehrparteiensystem der Schweiz ist es ein Ding der Unmöglichkeit, genaue Wähleranteile zu prognostizieren.»

WOZ: Frau Bütikofer, wir hätten am Sonntag einen «historischen» Wahlausgang erlebt, sagen nicht nur grüne Politikerinnen und Politiker. Das darf man durchaus so sagen, oder?
Sarah Bütikofer: Ja, es gab einige Ereignisse, die so deutlich noch nie aus Wahlen hervorgingen. Der hohe Frauenanteil, die starken Verschiebungen zwischen den politischen Lagern, die tiefsten Wähleranteile für gleich drei Bundesratsparteien: Es wird sehr viel zu analysieren geben!

Was lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt bereits sagen?
Die Individualdaten aus den «exit polls» zeigen, dass nicht in erster Linie Wechselwählende den Ausschlag gaben, sondern dass es vor allem den Grünen und den Grünliberalen gelang, in grossem Umfang ehemalige Nichtwählende und Neuwählende zu überzeugen. Vom Statistischen Amt des Kantons Zürich gibt es zwar auch erste Analysen auf aggregierter Ebene, und da zeigt sich, dass es in den Gemeinden durchaus deutliche Verschiebungen der Wählerstärke von der SP zu den Grünen und von der FDP zur GLP gab. Das muss aber alles noch im Detail untersucht werden.

Aber insgesamt war diese Wahl also vor allem eine Mobilisierungswahl: Die Themen Klima und Gleichstellung haben gezogen, die SVP gar nicht mehr.
In der Schweiz sind Wahlen immer in erster Linie Mobilisierungswahlen. Man weiss ja, dass über die Hälfte der Stimmberechtigten es vorzieht, zu Hause zu bleiben – auch in diesem Jahr, sogar noch mehr als zuletzt. Erfolgreich sind darum jene Parteien, deren Kernthemen den Wahlkampf und die Berichterstattung dominieren.

Das Ergebnis hat sich zwar abgezeichnet, war in dieser Deutlichkeit aber eine Überraschung. Letzte Woche haben Sie Zweifel an der Aussagekraft von Vorwahlumfragen geäussert. Fühlen Sie sich nun bestätigt?
Meine Skepsis betrifft vor allem die Berichterstattung, denn diese trägt wesentlich dazu bei, dass Umfragen am Ende als exakte Prognosen wahrgenommen werden. Aber im stark fragmentierten Mehrparteiensystem der Schweiz ist es ein Ding der Unmöglichkeit, genaue Wähleranteile zu prognostizieren. Der Trend hingegen wurde richtig aufgezeigt: dass nämlich die Parteien mit dem Label «grün» gewinnen würden, während vor allem die SVP und die anderen Bundesratsparteien mit Verlusten rechnen müssten.

So auch die SP.
Grundsätzlich hat die Linke deutlich zugelegt, aber in diesem Jahr konnten in vielen Kantonen nur die Grünen davon profitieren. Nicht dass die SP nicht ebenfalls eine grüne Politik machen würde, aber im Wahlkampf kam dies zu wenig zum Tragen. Zudem ist innerhalb des linken Lagers das Elektorat der Grünen tendenziell weiblicher und jünger. Sehr wahrscheinlich haben sie von den beiden grossen Mobilisierungsbewegungen in diesem Jahr überproportional profitiert.

Insbesondere in den beiden bevölkerungsreichsten Kantonen Zürich und Bern waren die SP-Verluste gross. Gleichzeitig haben ihre Ständeräte Daniel Jositsch und Hans Stöckli Spitzenresultate erzielt. Ist es für die Nationalratswahl also hinderlich, Zugpferde vom rechten Parteirand im Ständerat zu haben?
Majorz- und Proporzwahlen muss man getrennt analysieren. Ihre These lässt sich nur schon deshalb schwer erhärten, weil die SP beispielsweise auch in St. Gallen Wähleranteile verlor, obwohl ihr Ständerat dort Paul Rechsteiner heisst. Das ist kein Zugpferd vom rechten Parteirand, oder? Viel entscheidender dürfte gewesen sein, dass die SP im Vergleich zu den Grünen eher eine ältere Wählerschaft hat und dass sie viel weniger zu mobilisieren vermochte, insbesondere unter den Neuwählenden und wohl auch bei den Frauen. Gerade in Bern verlor ja vor allem die SP-Männerliste.

Zu den anderen Verlierern in Zürich und Bern: Wie können Roger Köppel und Albert Rösti von der SVP bei der Nationalratswahl so viele Stimmen machen, während ihre Partei dermassen verliert? Werden solch prominente Köpfe auf anderen bürgerlichen Listen so oft panaschiert?
Die Panaschierdaten aus Bern kenne ich noch nicht im Detail, aber Albert Rösti hat über 20 000 – und dahinter Werner Salzmann etwa 15 000 – Stimmen mehr als die nächsten Kandidierenden auf der SVP-Liste. Darunter dürften viele Panaschierstimmen sein. Bei Köppel ist es anders: Auch diesmal hat er bei der Nationalratswahl das beste Ergebnis im Kanton erzielt, im Vergleich zu 2015 verlor er aber über 55 000 Stimmen. Weil die SVP-Liste viel weniger eingelegt wurde, aber auch, weil er bei diesen Wahlen weniger panaschiert wurde als vor vier Jahren. Auch weniger als sein Parteikollege Gregor Rutz, der am Ende nicht einmal 400 Stimmen weniger machte als er. Offensichtlich wurde Köppel auch nicht mehr so oft doppelt auf die Liste gesetzt wie 2015.

Er ist ganz einfach nicht mehr so beliebt wie damals?
Alles in allem kann man davon ausgehen, ja.

Politologin Sarah Bütikofer (43) ist Herausgeberin von «DeFacto», der Onlineplattform der Schweizer Politikwissenschaft. Den Wahlsonntag hat sie im Bundeshaus verbracht.