Nils Melzer: Ein Idealist im Laufgitter des Systems

Nr. 42 –

Für das IKRK war er in Serbien und Jordanien, nun prangert Nils Melzer als Uno-Berichterstatter für Folter Missstände an. Besonders beschäftigt den Juristen der Fall von Wikileaks-Gründer Julian Assange. Ein Besuch.

«Die Zusammenarbeit der EU mit Libyen ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit»: Völkerrechtler Nils Melzer in seiner Wohnung in Biel.

«Menschenrechte werden heute nur im Laufgitter zugelassen. Sobald sie herrschende Machtverhältnisse infrage stellen, ist Schluss», sagt Nils Melzer. Es ist einer dieser Herbsttage, an denen man wegen frostiger Morgentemperaturen eine Jacke braucht, die dann ab Sonnenaufgang zur Last wird. Die Wohnung des 49-Jährigen ist akribisch aufgeräumt – alles scheint seinen Platz zu haben.

Von hier aus, hoch über Biel mit bester Sicht auf die Alpen, erledigt der Völkerrechtler mit Lehraufträgen in Genf und Glasgow einen Grossteil seiner Arbeit. Doch die unaufgeregte Atmosphäre trügt. «Mein Job besteht nicht einfach darin, Bücher zu lesen, Urteile zu zitieren oder die Rechtsprechung der Gerichte zu kennen. Genauso wichtig ist der Bezug zur Praxis», sagt er zum Auftakt eines ausgedehnten Gesprächs.

Die toten Winkel aufzeigen

Ende der neunziger Jahre ging Melzer als junger Jurist im Auftrag des IKRK nach Serbien. Dort begann er, sich in Richtung Völkerrecht zu orientieren, machte Gefängnisbesuche und lernte seine Frau kennen. «Als eine seiner letzten Amtshandlungen hat Milosevic noch an unserer Hochzeit mitgewirkt», erzählt er schmunzelnd. Weil zeitgleich die Präsidentschaftswahlen stattfanden, musste die Einreise der Schweizer Hochzeitsgäste vom damaligen serbischen Machthaber persönlich abgesegnet werden.

Nach Serbien setzte sich Melzer für das IKRK als einer der ersten internationalen ExpertInnen mit den rechtlichen Aspekten sogenannter «targeted killings» auseinander, der gezielten Tötung «feindlicher KämpferInnen». Vor den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde diese Art der Kriegsführung offiziell nur von Israel praktiziert: Es war die Geburtsstunde der Drohnenkriege. «Nach 9/11 brauchte das IKRK mehr Rechtsberater. Ich durfte eine Expertengruppe leiten, die sich mit den Bedingungen befasste, unter denen Zivilisten in kriegerischen Auseinandersetzungen ihren Schutz verlieren können.»

Parallel dazu dissertierte Nils Melzer zu diesem Thema. «Meine Arbeit gilt heute als Referenzdokument für diese Art Kriegsführung.» Melzer erzählt dies fast beiläufig, ohne Überheblichkeit oder gar Eitelkeit. Er scheint von Idealen getrieben: ein Eindruck, der sich insbesondere im Gespräch über sein Uno-Mandat als Sonderberichterstatter für Folter bestätigt.

«Das Mandat war für mich ein Glücksfall, denn es erlaubte mir, mich in neuer Weise mit dem Thema ‹Folter und Menschlichkeit› zu befassen», sagt Melzer. Im Rahmen seiner Tätigkeit hat er immer wieder Staub aufgewirbelt. «Ich sagte von Beginn weg: Ich will die Themen ans Licht ziehen, die unter dem Radar bleiben, jene, die die grossen Institutionen nicht wahrnehmen oder aus politischen Gründen nicht behandeln dürfen.» Melzer widmete sich unter anderem dem Thema Migration.

Seine Miene versteinert sich, wenn er über die weltweite Misshandlung von MigrantInnen spricht. Die gegenwärtige Entwicklung findet er so skandalös, dass er dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag empfahl, Strafuntersuchungen wegen «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» einzuleiten. «Die Zusammenarbeit Europas mit Libyen setzt Migranten zum Beispiel Völkerrechtsverbrechen aus, die untersucht und verfolgt werden müssen», so Melzer. Er weiss, dass seine Empfehlung keine Chance hat, weil de facto die Uno-Vetomächte entscheiden, welche Fälle vor dem ICC landen. Und wo machtpolitische Interessen sind, werden menschenrechtliche Standards oft zur Nebensache. Aber mit solchen Vorstössen scheint es ihm ohnehin eher darum zu gehen, die toten Winkel des Rechts aufzuzeigen.

Eine Revolution ohne R

Auch ein anderer Fall beschäftigt Melzer: jener des Wikileaks-Gründers Julian Assange. Er wirkt empört, wenn er über den Aktivisten spricht. Über die Plattform Wikileaks hatte Assange immer wieder geheime Dokumente veröffentlicht, die unter anderem schwerste Kriegsverbrechen der USA im Irak belegen. Seither wird er von Amerika gejagt. Medien schreiben über seine unerträglichen Verhaltensweisen, bezeichnen ihn als Narzissten; in Schweden sieht er sich mit Vergewaltigungsvorwürfen konfrontiert.

In London lebte Assange sieben Jahre lang in der ecuadorianischen Botschaft, bis ihm der neue Präsident, Lenín Moreno, im April das diplomatische Asyl und auch gleich die ecuadorianische Staatsbürgerschaft entzog. Weil er 2012 gegen Kautionsbedingungen verstossen haben soll, verurteilte ihn ein Londoner Gericht daraufhin zu fünfzig Wochen Haft. Im Februar soll über seine Auslieferung in die USA befunden werden, wo ihm 175 Jahre Gefängnis drohen.

Kurz nach dessen Inhaftierung besuchte Melzer Assange im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh. Die medizinische Untersuchung stellte bei Assange klare Symptome psychologischer Folter fest. Melzer prangerte die systematische Verletzung von dessen Verfahrensrechten an. Der für ihn eigentliche Skandal: dass Assange durch den Dreck gezogen werde, während die von ihm aufgedeckten Kriegsverbrechen ungeahndet blieben.

Dies funktioniere nur, weil sich diverse Staaten im Sinne der USA gegen Assange verbündet hätten. Im Zusammenspiel mit einem Grossteil der Medien habe dies die Folter erst ermöglicht, schrieb Melzer im Juni in einem Beitrag für das Newsportal «Medium»: «Nachdem er durch Isolation, Spott und Demütigung entmenschlicht worden war, wie die Hexen, die wir einst auf dem Scheiterhaufen verbrannten, war es leicht, ihm seine grundlegendsten Rechte zu entziehen, ohne die Öffentlichkeit zu empören.» Melzer forderte «ein sofortiges Ende seiner kollektiven Verfolgung».

Feministische Kreise kritisierten in der Folge, dass Melzer die Vergewaltigungsvorwürfe in Schweden bagatellisiert habe. Er reagierte mit einem offenen Brief und passte die entsprechenden Stellen im Originaltext an. Melzer scheint geprägt von Gerechtigkeitsidealen, die er vehement einfordert – auch gegenüber sich selbst. Wo er zuweilen mit Tabubrüchen provoziert, tariert er diese durch Verhandlungsgeschick aus und schafft es dadurch, auch KritikerInnen auf seine Seite zu ziehen.

Einer von Melzers liebsten Begriffen ist «eye opener»: Wendepunkte in seinem Werdegang, die ihm die Augen öffneten. Er habe sich einst in einem funktionierenden System gewähnt, das er durch seine Arbeit nahe an der Macht dann aber immer mehr zu hinterfragen begonnen habe. Ein Teil dieses Systems ist er trotzdem geblieben, er fordere es aber immer heraus, wie er sagt. Melzer spricht von einer «durch Ängste befeuerten Massenamnesie» und hofft auf «eine weltweite Grassrootsbewegung, mit den Leitprinzipien Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit». Die ordentliche und friedliche Atmosphäre seiner Wohnung wünscht Melzer sich auch für den gesellschaftlichen Wandel: «Wir brauchen eine Revolution ohne R.»