Der Fall Assange: Weit über die Person hinaus
Anfang Woche durfte Julian Assange das Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh verlassen. Im Rahmen eines Deals mit der US-Justiz reiste der Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks auf die Pazifikinsel Saipan, wo er sich vor einem US-Gericht wegen eines Verstosses gegen den «Espionage Act» von 1917 schuldig bekannte – und den Saal anschliessend als freier Mann verliess. Die verhängte Haftstrafe von fünf Jahren hat Assange in Belmarsh bereits abgesessen. Inzwischen ist er in seinem Heimatland Australien gelandet; den 53. Geburtstag kommende Woche wird er im Kreis seiner Familie feiern können.
Die Gründe für die überraschende Freilassung sind vielfältig: Die sozialdemokratische Regierung Australiens hatte sich hinter den Kulissen seit Monaten dafür eingesetzt. US-Präsident Joe Biden befindet sich indes mitten in einem aufreibenden Wahlkampf gegen seinen republikanischen Widersacher Donald Trump – vom Assange-Deal erhofft er sich wohl, im linken Lager zu punkten. Schliesslich sorgte auch eine global vernetzte Anhänger:innenschaft, unterstützt von Organisationen wie Reporter ohne Grenzen oder Amnesty International, mit zahllosen Demonstrationen, Aufrufen und Onlinepräsenz dafür, dass der Fall nie ganz aus der Öffentlichkeit verschwand.
Wie so oft in den letzten Jahren steht auch jetzt die Person Assange im Zentrum. Dabei ist er weder der geniale Prophet und Freiheitskämpfer, zu dem ihn Teile seiner Anhängerschaft hochstilisieren, noch bloss das misogyn-narzisstische Ekel, das seine Gegner:innen in ihm sehen. Letztlich ist die Persönlichkeit ohnehin weitgehend unerheblich; die Dimension des Falls weist weit über Assange hinaus.
Entsprechend lohnt sich ein Blick auf die Plattform, die vor bald zwanzig Jahren entstand. 2006 gegründet, katapultierte sich Wikileaks vier Jahre später mit einer bahnbrechenden Enthüllung – der Publikation von mehr als 250 000 geheimen militärischen und diplomatischen Dokumenten – ins globale Rampenlicht: Gemeinsam mit Zeitungen wie der «New York Times», dem «Guardian» oder dem «Spiegel» deckte Wikileaks Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen von US-Streitkräften im Irak und in Afghanistan auf.
Mit der Publikation des Materials prägte es eine neuartige Form von Aufklärungsjournalismus. Wikileaks ging aber noch einen Schritt weiter: Weil die (redigierten) Dokumente öffentlich einsehbar waren, konnten Bürger:innen, NGOs oder Aktivist:innen selbst mit den Daten arbeiten. Entscheidend war die Plattform dadurch etwa für den öffentlichen Widerstand gegen das geplante Dienstleistungsabkommen Tisa in den zehner Jahren, mit dem westliche Regierungen in geheimen Verhandlungen Privatisierungen im Gesundheits-, Telekommunikations- oder Bildungswesen durchsetzen wollten.
Mit seinen Publikationen stellte Wikileaks ein auf Überwachung, Repression und Intransparenz basierendes Herrschaftssystem radikal infrage – und gab der Öffentlichkeit ein Instrument an die Hand, um zumindest teilweise eine gewisse demokratische Kontrolle zurückzugewinnen.
Die Reaktion der Herrschenden war ebenso heftig wie absehbar. Während die US-amerikanischen Kriegsverbrechen, die Wikileaks aufgedeckt hatte, bis heute straffrei geblieben sind, klagte die US-Justiz Julian Assange an. Ihm drohten bis zu 175 Jahre Haft. Er tauchte zunächst für sieben Jahre in der ecuadorianischen Botschaft in London ab, 2019 folgten die Verhaftung und die Versetzung nach Belmarsh. Der erzwungene Aufenthalt in der Botschaft und die spätere Haft bedeuteten indes auch das Ende von Wikileaks; heute ist die Plattform nur noch eine Art Unterstützungsnetzwerk für ihren Gründer.
Den Herrschenden ging es nie nur um die Person Assange, sondern immer auch um die Plattform selbst – um einen Schlag gegen den Enthüllungsjournalismus und die radikale Transparenz, für die sie stand. Assange ist frei; aber solange keine neuen Plattformen wie Wikileaks entstehen, ist es keine echte Befreiung.